Dummköpfe spielen an einem Abend Sonaten von Joseph Haydn nach solchen von Wolfgang Amadeus Mozart. Oder sie lassen verrückte Werke von Antonio Vivaldi auf jene von Johann Sebastian Bach folgen. Und sie verkümmern im Vergleich zu den Titanen. Egal: Olivier Cavé tut es, denn er kann das. Auf das Warum gibt der Schweizer Pianist viele Antworten. Die beste: «Ich bin Pianist.» Eine andere: «Ich habe keine Angst.» Der Westschweizer ist eine beeindruckende Erscheinung meist in gestyltem Massanzug, immer mit schicker Markenuhr. Ideen sprudeln bei ihm ununterbrochen, Olivier Cavé produziert alle zwei, drei Jahre eine CD. Und er hält sich mit gesunder Kost fit, um sein Pensum zu bewältigen.
Cavé hat keine Bedenken, Barockmusik auf einem modernen Flügel zu spielen. Der 35-jährige Westschweizer hat mit einer Scarlatti- und einer Clementi-CD gezeigt, wie aktuell und historisch sein Barockspiel gleichermassen sein kann. Da war nichts von romantischer Steinway-Zärtlichkeit zu hören, sondern prächtig rohe Cembalo-Kraft – allerdings übersetzt auf den Steinway. Doch kann das mit Musik von Bach und Vivaldi gutgehen?
Konzert im Himmel
Die Probe aufs Exempel durften wir im Himmel machen: Im Sala Apollinea des weltberühmten Venezianer Teatro la Fenice. Der Saal ist ein Bijou, aber auch ein Zauberkasten. Der Klang des Fazioli-Flügels – der Ferrari unter den Flügeln, wenn der Steinway der Rolls-Royce sein soll – ist prächtig voll, der Saal nimmt jedes Detail auf, auch wenn Cavé später sagen wird: «Es war die Hölle. Ein Wunderinstrument für langsame Sätze, aber in den schnellen war es extrem schwierig, jeder Triller ein Graus.» Er übertreibt – ja er irrt als glücklich zweifelnder Künstler.
Bach mit etwas Süden
Olivier Cavé spielte an diesem Abend die auf CD vereinten Bearbeitungen italienischer Werke von J.S. Bach – Kon-zerte, die ursprünglich von Alessandro Marcello (1669–1747) und Antonio Vivaldi (1678–1741) komponiert worden waren. Petitessen waren das mal, von italienischen Streichorchestern, im schlimmsten Fall von «Rondo Veneziano» zur Nichtigkeit zerspielt. Seit aber die historisch informierte Aufführungspraxis gezeigt hat, wie diese Musik tönen kann, wird es spannend. Das ist der Ausgangspunkt für Cavé – aber eben: Er geht einen Schritt weiter und übersetzt das historische Klangbild in die Gegenwart.
Sogleich stellt sich die Frage: Liegt darin nun mehr deutscher Bach oder mehr italienischer Vivaldi? Für den in Italien aufgewachsenen Cavé ist es eher Vivaldi. Umso reizvoller werden diese Überlegungen, wenn Cavé Bachs berühmtes «Italienisches Konzert» mit südländischem Flair spielt: Jenes Werk also, in dem Bach der Welt zeigte: «Was diese Italiener können, kann ich schon lange!» Das Durcheinander ist perfekt: Da Bach auf Italiener macht und Cavé Bachs heiligen Ernst mit mediterranem Sonnenschein erhellt, schlägt dieser Interpret prächtige Brücken: Mal so deutlich wie die Rialto-, mal klein und einsturzgefährdet wie die Seufzerbrücke.
Keine zehn Stunden später schlägt Cavés Herz heftig für seine alte Liebe, für Alessandro Scarlatti – kein Wunder, wir sind ihm so nahe wie selten zuvor. In der venezianischen Biblioteca Nazionale Marciana fragt der Pianist nach komplizierter Voranmeldung, ob er das Manuskript der geliebten Sonaten anschauen dürfe. Vier Kissen werden ausgebreitet und dann, als sei es das Evangelium, Scarlattis Original drauf gebettet: «Prego.»
Wahrheit liegt im Saal
Der Blick ins Original ist ein wissenschaftlicher Weg, um diese Musik zu begreifen. Wer aber etwa in den kunstvoll ausgemalten Saal des Konvents «Ospedaletto», der Kirche Santa Maria dei Derelitti zugehörig, schreitet, spürt die Intimität des Raumes. Hier drin gab es keine Diskussion, ob ein Cembalo laut oder leise war. 150 Gäste würden selbst beim Zupfen einer Lauten-Saite erschaudern. Nirgends wird deutlicher, wie falsch ein moderner Flügel für diese Musik wäre, sein Klang würde in diesem Saal alle erschlagen.
Neuer Traum
Cavé träumt davon, sich Scarlattis Musik auf dem Hammerflügel oder gar dem Cembalo zu nähern. Doch auch die Werke von Alfredo Casella (1883–1947) haben es ihm angetan, ein Komponist der vergessenen Generation, die zwischen den Weltkriegen neue kompositorische Wege suchte.
Venedig – Stadt der Träume, der Künstler, der verrückten Ideen. Schon die Suche nach einem Platz in einer guten Osteria kann den Venedig-Schwärmer auf den Boden der Realität zurückholen. Cavé stochert dort abwesend in der Bigoli-Pasta herum – im Kopf spielt er wahrscheinlich bereits Alfredo Casellas «Omaggio a Clementi».
CDs
Bach: Konzerte, Kaprizen & Arien (Aeon 2013).
Clementi: Didone abbandonata, Scene tragiche
(Musicora/Aeon 2010).
Scarlatti: Naples 1685
(Aeon 2008).
Konzert
Menuhin Festival Gstaad Musique italienne
mit Olivier Cavé
Mi, 21.8., 19.30
Kirche Lauenen Gstaad BE