Man muss es aushalten. Im Theaterstück «Verweile doch, du bist so schön» will die Zeit manchmal einfach nicht vergehen. Etwa, wenn sich die Schauspieler in Dialogen verstricken, die keine sind, und niemand weiss, worauf das hinauslaufen wird. Doch genau das will das am Theater Orchester Biel Solothurn bestens bekannte Regie-Duo Deborah Epstein und Florian Barth. «Man muss Sitzleder mitbringen für unser neues Stück», sagt Epstein beinahe vergnügt und Barth ergänzt: «Wenn wir uns langweilen, vergeht die Zeit besonders langsam. Nur so spürt man sie richtig.»
Ganz so schlimm ist es aber nicht, wie der Probenbesuch zeigt. Denn es gibt immer wieder Momente im unzusammenhängenden Text, die an eigene Erlebnisse anknüpfen und einen selbst in einen Strudel von Erinnerungen ziehen. Und genau diese Momente sind es, die dem Sitzleder das Unbequeme rauben.
Während draussen kleine Eisschollen die Gassen Solothurns zieren, ist es drinnen im Saal des Stadttheaters angenehm warm.
Momente zwischen Wachsein und Schlafen
Noch wärmer wird es den fünf Schauspielern des Ensembles in ihren unförmigen Schlafanzügen. In der Mitte der Bühne steht ein Holzbett mit Kopfteil, wie es manche aus dem Gästezimmer der Grossmutter kennen dürften. Die Tapete zeichnet ein Muster, das ebenfalls in diese Zeit passt, und auch die sonstigen Möbel führen keinen zeitlichen Bruch herbei.
«Schau, da bin ich jetzt doch eingeschlafen», sagt einer der Schauspieler auf der Bühne. Mitten in der Nacht sei er erwacht und habe im ersten Moment nicht gewusst, wo er war, geschweige denn, wer er war. Bis er die vagen Teile seines Selbst wieder zusammensetzen konnte.
Es sind solche Momente zwischen Wachsein und Schlafen, die wir alle kennen. Die Orientierungslosigkeit mitten in der Nacht, die auch immer eine Orientierungslosigkeit in der Zeit darstellt. Ein Moment, in dem unklar ist, was Gegenwart, was vergangen und was Zukunft ist. Genauso sind es konkrete Erinnerungen, die uns in unsere eigenen vergangenen Lebenswelten manövrieren. Die liebliche Melodie eines Weihnachtsliedes. Ein traditionelles Weihnachtsmenü. Das Frühstück des Vaters. Spiegelei mit Schinken. Oder auch Fragen wie: «Wo ist mein Bett?» – «Warum ist meine Decke so schwer?» – «War früher alles schöner?»
Zwischen diesen Assoziationsketten tollen die Schauspieler wortlos über den Bühnenboden, zucken im Takt der vergehenden Zeit, schlummern weg – um sich irgendwann wieder auf dem Bett in der Mitte der Bühne zu treffen und weitere Geschichten zu erzählen.
Von Thomas Mann bis Peter Bichsel
Die Akteure verkörpern keine Figuren, sie haben keine Rolle, spielen aber mit verschiedenen Prosatexten. Mit den Zeilen von Marcel Proust, Thomas Mann, Walter Benjamin, Peter Bichsel und anderen. «Verweile doch, du bist so schön» hat keinen Plot, die Sätze reihen sich scheinbar wahllos aneinander, es spielt keine Rolle, wer welchen von sich gibt, und doch entsteht zwischendurch so etwas wie Sinn. Wobei diese Formulierung dem Regie-Team vielleicht schon zu weit gehen würde.
Wie sie auf die Idee zu diesem philosophischen Stück gestossen sind, erklärt Epstein nach der Probe: «Die Idee ist aus unseren vorherigen Projekten entstanden.» Vor vier Jahren brachten Epstein und Barth in Solothurn und Biel einen Theaterabend mit Bichsel-Texten auf die Bühne («Mit wem soll ich jetzt schweigen?»), vor zwei Jahren einen mit Robert-Walser-Texten («Die Wärme sollte kälter und die Kälte wärmer sein»). In der Vorbereitung zu diesem letzten Stück stiessen sie im Buch «Der Räuber» auf einen Text, «der gar keinen Sinn machte». Dieser habe den Ausschlag gegeben.
Das Stück gleiche einem Traum – und das Bett in der Mitte der Bühne stelle eine Art Traumschiff dar, wie Epstein sagt. «Es verspricht im Meer der Erinnerungen Trost und Rettung.» Denn Epstein und Barth sind sich einig: «Erst Erinnerungen können Zeit schaffen.» Um diesen Moment der Erinnerung noch zu verstärken, arbeitet die Regie mit Lichtstimmungen aus vergangenen Stücken sowie einem Bühnenbild, das sich nur marginal von jenem in ihrem Stück «Die Zofen» unterscheidet. Auf diese Weise nehmen sie das Erinnern auch visuell auf.
Kopfhörer sorgen für Intimität
Für die «Traumreise» wird das Theaterpublikum mit Kopfhörern ausgestattet, wodurch es selber Teil dieses Abends wird. «Mit diesem Setting können die Zuschauer viel direkter an den Empfindungen der Schauspieler teilnehmen, weil jeder das Stück für sich alleine verfolgt», ist Barth überzeugt. Es schaffe eine intime Situation.
Bevor das Regie-Team zur Lichtprobe auf die Bühne zurückgerufen wird, auf der die Uraufführung stattfinden wird, sagt Barth noch: «Dieser Abend wird ein Stück Theater.» Mit Betonung auf: ein Stück. Und das trifft es wohl ganz gut.
Verweile doch, du bist so schön
Premiere: Sa, 17.3., 19.00 Stadttheater Solothurn
Ab Sa, 14.4., Stadttheater Biel
www.tobs.ch
6 weitere Kulturtipps zum Thema Zeit
FESTIVAL
Zeitfrei – die Ewigkeit hat keine Zeit
Musiktheater, Konzerte, Performances, Gesprächsrunden, eine Klanginstallation, ein Poetry Slam, eine Ausstellung und ein Kinderprogramm zum Thema Zeit und Ewigkeit.
Di, 10.4.–So, 15.4. Theater Stok Zürich
www.zeitfestival.ch
AUSSTELLUNG
Pe Lang
Bewegliche Skulpturen des Künstlers Pe Lang, die Zeit und Vergänglichkeit sicht- und spürbar machen.
Sa, 17.3.–So, 23.9. Museum Of Digital Arts MuDA Zürich
www.muda.co
MUSIK
Zeitschrei
Michael Wertmüllers Komposition bringt Zeit zum Klingen – als harmonisch-rhythmische Abläufe wie historisch-stilistische Wechselwirkungen.
CD Zeitschrei
(Trost Records 2013)
FILM
The End Of Time
Wie sich die Welt verändert, wie alles fliesst. Der schweizerisch-kanadische Regisseur Peter Mettler setzt in seinem poetischen Essayfilm das Thema Zeit in faszinierende Bilder um.
DVD The End Of Time
Regie: Peter Mettler
CH/CAN 2012, 109 Minuten
(Indigo 2014)
HÖRBUCH
Zeit: Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen
Der Autor und Philosoph Rüdiger Safranski beleuchtet das Mysterium Zeit aus verschiedenen Blickwinkeln. Schauspieler Frank Arnold liest Safranskis kluge und lebensnahe Abhandlung.
Hörbuch Rüdiger Safranski
Zeit: Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen
Sprecher: Frank Arnold
4 CDs, 306 Minuten
(Random House Audio 2015)
ROMAN
Cox oder Der Lauf der Zeit
In seinem Roman führt der österreichische Autor Christoph Ransmayr ins China des 18. Jahrhunderts: Kaiser Qianlong wünscht sich eine Uhr für die subjektive Zeit, die etwa das Zeitempfinden eines Liebenden oder eines Kindes misst. Der berühmte englische Uhrenmacher Alister Cox erhält den heiklen Auftrag.
Buch Christoph Ransmayr
Cox oder Der Lauf der Zeit
304 Seiten
(Fischer Verlag 2016)
(Zusammengestellt von bc/fn/hau)