Der sensibel-verknorzte Hanspeter Brauchle, der umständliche Wissenschaftler Theo Metzler oder der fremdsprachige Wortjongleur Jovan Nabo: Diese drei schrägen Käuze stolpern immer wieder durch Joachim Rittmeyers Programme. Und auch beim Besuch im Zuhause des Kabarettisten haben sie ihre Auftritte. «In jeder Figur steckt immer ein Teil von mir selbst», sagt Rittmeyer. Im Gespräch verwandelt er sich zuweilen in Gestik und Sprache in eine seiner Bühnenfiguren – unvermittelt sitzt dann der ausschweifende Metzler oder der zögernde Brauchle auf dem Sofa in Delémont.
Der anarchische Wissenschaftler Theo Metzler komme ihm am nächsten: «Er ist ein spielerischer Freigeist, illusionslos, aber fröhlich – das passt zu mir.»
Nach einem Rundgang durch sein über hundertjähriges Haus im Grünen, wo er sich im obersten Stock sein Atelier eingerichtet hat, tischt er Kaffee und Luxemburgerli auf und erzählt von seinem 20. Soloprogramm «Bleibsel». Die Idee dazu entspringt einer Alltagsbeobachtung: In einer geselligen Runde bleibt auf dem Teller voller Guetzli meist das letzte übrig – das «Bleibsel» eben. Auf der Bühne erkundet er in der Figur eines Performancekünstlers dieses Phänomen und filmt eine Tischrunde.
Selbstversuch mit Keks
Mit dabei sind seine bekannten Bühnenfiguren, dazu kommt eine Coiffeuse aus Ghana, die den scheuen Gastgeber Brauchle unter ihre Fittiche nimmt. Verwandlungskünstler Rittmeyer hat in sein Programm einige überraschende Wendungen eingebaut. Vorangegangen sind der Entwicklung des Programms zahlreiche Selbstversuche mit Guetzli-Tellern, wie der 64-Jährige schmunzelnd erzählt. Auf seine Ideen stösst er jeweils beim Beobachten und Zuhören im Alltag – an der Migros-Kasse oder auf dem Zugperron winkt die Muse.
Mit leisem Humor
Mit Vorliebe legt der Humorist die Lupe auf das Unscheinbare. «Je länger ich auf ein Detail schaue, desto grösser wird die Welt dahinter», sagt er. So pflegt er in seinen Programmen einen leisen Humor, ohne eine Pointe nach der anderen abzufeuern. «In unserer Eventkultur gibt es immer schnellere Wechsel, und es herrscht die Angst vor der Langeweile. Mein Programm hingegen ist eine Verlangsamung», sagt er. Provokationen à la Andreas Thiel sind nicht seine Art. Sein Publikum bringt die Musse mit, sich auf das Zweckfreie und das Schräge einzulassen.
Früher hat der Kabarettist oft zum Zeichenstift gegriffen, um besonders interessante Menschen auf Papier festzuhalten. Heute setzt er seine Beobachtungen auf der Bühne um. «Mich interessieren der Mensch und seine Geheimnisse – und vor allem die Loser unter ihnen, solche, die ihren Eigenheiten treu bleiben.»
Sein Sinn fürs Verspielte zeigt sich auch in seinem Haus in Delémont. Der Vater zweier erwachsener Kinder lebt dort seit sechs Jahren mit seiner Frau, einer Kinderpsychologin, und nutzt es zuweilen für kulturelle Anlässe. Das Gartentor bewachen zwei Steineulen, die demnächst Gesellschaft von einem dritten Kauz bekommen. Und im Eingang können die Besucher ihr Glück am selbstkonstruierten Spielautomaten versuchen. Beim Drehen der Kurbel werden verschiedene Wörter durcheinandergewirbelt: So ergibt sich bei einem Versuch etwa das Wort «Reisewurmverbot». Solche Wortspielereien erinnern an seine Bühnenfigur Jovan Nabo, der mangels Sprachkenntnissen jeweils den Wortsinn verdreht: Unter «mehrheitsfähig» versteht dieser «mehr heizfähig» und dreht darum die Heizung bis zu tropischen Temperaturen auf.
Spiel mit der Realität
«Wenn ein Wort plötzlich einen anderen Sinn ergibt, ist es, als ob man durch einen Boden fallen und auf einem anderen landen würde – ein Spiel mit der Realität», sagt Rittmeyer und ergänzt: «Der Künstler darf das Kind in sich nicht begraben.»
Als Jüngster von sechs Kindern hat er schon im engen Elternhaus im St. Gallen der 50er-Jahre den Humor als Auflockerungsstrategie entdeckt. «Ich stiess als Nachzügler zur Familie, alle Grundfarben waren schon vergeben, jeder hatte seinen Platz. Mir blieb nur die Ecke am Tisch mit der Spitze im Bauch. Ich fühlte mich immer etwas ausserhalb», erinnert er sich. Als seine Mutter früh zur Witwe wurde, hat er gemerkt, dass ein befreiendes Lachen die Atmosphäre auflockert. Und in der Schule hat er als schmalbrüstiger «Sprenzel» das Wort als Waffe benutzt.
Der Humor hat ihm auch später als so genannter Dienstverweigerer im Gefängnis über die Runden geholfen. Dort ist sein erstes Bühnenprogramm entstanden. Die schauspielerischen und musikalischen Fähigkeiten hat er sich autodidaktisch beigebracht.
Bundesrat im Publikum
Mit einem verschmitzten Grinsen erinnert er sich an einen besonderen Moment zu Beginn seiner Bühnenkarriere: Eines Abends sei der damalige St. Galler Bundesrat Kurt Furgler, den der Kabarettist parodierte, im Publikum gesessen, um sich seine eigene Imitation anzusehen: «Das war mir dann doch etwas unangenehm, und ich habe die Nummer abgekürzt …»
Inzwischen hat Rittmeyer das Interesse am politischen Kabarett verloren. Lieber will er die Wahrnehmung des Publikums auf schräge Käuze und Situationen aus dem Alltag lenken. So wie die Guetzli-These, die sich beim Besuch in Delémont übrigens nicht erhärtet: Die Luxemburgerli-Schachtel hat sich während des angeregten Gesprächs geleert.
Philosophischer Alltagsbeobachter
Joachim Rittmeyer ist 1951 in St. Gallen geboren und dort aufgewachsen. Nach einer kurzen Tätigkeit als Lehrer und Journalist hat er sich ab 1974 ganz dem Kabarett gewidmet. Von 1989 bis 1995 war er in der satirischen Sendung «Übrigens» beim Schweizer Fernsehen zu sehen. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Salzburger Stier und dem Schweizer Kleinkunstpreis. Mit seinem 20. Soloprogramm «Bleibsel» geht er auf Schweizer Tournee.