Ein Gedicht zum Ladenschluss in Lugano, profan und doch poetisch:
LUGANO, LADENSCHLUSS
Kein Anfang und kein Ende was vom Tag
geblieben ist: nach sieben Uhr
die Gitter vor den Schaufenstern und der
von seiner Truppe verlo-
rene Soldat wie er lief mit schlenkernden
Armen die schmale
Gasse hinab zum See.
Ohne Komma, aber mit gekonnt gesetzter Trennung führt der Autor im kleinen Band «Né inizio né fine» durch Cafés, Landschaften und Grenzstationen hauptsächlich des Tessins. Man muss die Zeilen – im italienischen Original oder auf Deutsch übersetzt – mehrfach lesen, um das Leitmotiv der versteckten Traurigkeit zu erfassen. Pathos, Anklage und Dramatik fehlen in den Originalen ebenso wie in der geglückten Übertragung.
Virgilio Masciadri (1963–2014) konnte leider aus gesundheitlichen Gründen mit der Übersetzerin keinen Austausch mehr pflegen, obgleich dieser wichtig für sie gewesen wäre. Denn die poetische Sprache von Masciadri weist syntaktische und inhaltliche Herausforderungen auf: Welche Bedeutungen haben zum Beispiel die «halbierten» Wörter am Ende einiger Zeilen?
Auch ein Krimiautor
Der Lyriker und Schriftsteller ist in Aarau aufgewachsen. Er studierte klassische und mittellateinische Philologie an der Universität Zürich und lehrte als Privatdozent. Die Literaturzeitschrift «orte» hat im Lauf der Jahre Gedichtbände von Masciadri herausgegeben, daneben auch seine Habilitationsschrift über «Eine Insel im Meer der Geschichten. Untersuchungen zu Mythen aus Lemnos». Der Autor trat auch als Krimiverfasser hervor mit dem Roman «Schnitzeljagd in Monastero». Die Handlung spielt am Comersee, wohin sich Masciadri häufig in das ehemalige Elternhaus zurückzog.
Im Kanton Aargau organisierte er immer wieder literarische Anlässe, er galt jedoch nicht als lauter Kulturakteur. «Seine Gegenwart war still, unaufdringlich, immer wohltuend, seine Wirkung gross», mit diesen Worten bedachte ihn die «Aargauer Zeitung» nach seinem Tod. Wer ihm je begegnen durfte, kann diese Einschätzung bestätigen.
Seine Texte in diesem Band bieten Lesern mit Italienischkenntnissen das Erlebnis, in zwei Sprachen einzutauchen. Im Einzelfall sind seine Gedichte sogar mit einem englischen Titel versehen:
AS THE CAT
Also will auch ich ein Gedicht machen
aus drei Etiketten für Konfitüregläser
dem brummenden Handmäher meines Nachbarn
einer Ambulanz die irgendwo weit weg
das Tal hinabjault einer Zwiebel und der
graurot gescheckten Katze die bedächtig
die Steinstufen zum Geräteschuppen erklimmt.
Masciadri sah die Poesie als hermetischen Zufluchtsort. Die Krankheit bleibt trotz des nahenden Sterbens des Autors weitgehend ausgeklammert. Einlass fanden hingegen der Humor, das Absurde und die gekonnte Umkehr, hinter dem zuvor präzise Erfassten. Dadurch schleicht sich das Triste lediglich diskret ein.
«Fast nicht mehr Schweiz»
Leise Ironie schimmert durch, wenn sich in einem seiner Gedichte Ziegen als «fleissigste Beter» erweisen, welche die Kügelchen ihres Rosenkranzes auf der Wiesentreppe zur Kirche platzieren. Andernorts blitzt Schalk auf: Wenn der Autor bemerkt, dass «der Fortschritt bisweilen nur um den Preis der Unordnung feil ist» oder in einem Privatpark ein grünes Schweigen ausbricht – «fast nicht mehr Schweiz».
Virgilio Masciadri,
«Né inizio né fine»
27 Seiten
(alla chiara fonte edizione 2014).
«orte» – Nr. 181
«Warum bloss diese Liebe zur Literatur?»
Spezialausgabe der Literaturzeitschrift zum Andenken an Virgilio Masciadri
(erschienen im Mai 2015).