«Sumpf, Dreck, etwas Gebärendes, Verschlingendes.» Von diesem Bild ist Michael Fehr für seinen Text «Simeliberg» ausgegangen, wie er im Interview erzählt. Daraus entstanden ist ein klangpoetisches Werk zwischen Krimi und lyrischer Erzählung, das in einem Schweizer «Krachen» spielt. Grau, Schwarz und Weiss sind die vorherrschenden Farben in diesem tristen Ort. Braun hingegen ist die Gesinnung einiger Jungspunde aus dem Dorf.
«Ab vom Schuss»
Der Gemeindsverwalter Anatol Griese hat als Deutscher einen schweren Stand. So erhält er auch keine Unterstützung, als er einen Sozialfall untersuchen soll: Allein begibt er sich auf den Hof des Bauern Schwarz, der angeblich seine verschwundene Frau ermordet hat. Schwarz lebt «ab vom Schuss» in der Ödnis: «bei Gefrörne graue / schwarze Kruste / bei Hitze graue / schwarze Sauce / dazwischen etwas dazwischen / Matsch». So beschreibt Michael Fehr in kurzen, wenige Wörter umfassenden Zeilen das jämmerliche Loch des von irrwitzigen Ideologien beherrschten Bauern Schwarz.
Der stark sehbehinderte Berner Autor Fehr, der die Welt in Farben und Formen wahrnimmt, zeichnet seine Sätze akustisch auf. Seine Sprache funktioniert übers Ohr, wie er 2014 mit einer eindringlichen Performance beim Bachmann-Preis in Klagenfurt gezeigt hat. Daraus entsteht seine Prosa mit ihrem eigenen Klang und Rhythmus ohne Interpunktion. «Die Möglichkeit, dass ich mit der Sprache Wände verschieben kann, finde ich gewaltig», sagt Fehr zu seinem Schaffen. «Mir geht es um die Wiedererfindung von Form, von Rezitation, um echte Geschichten.»
Am besten liest man «Simeliberg» in einem Stück und lässt sich vom rhythmischen Sog mitreissen. Mit seinen Wort- und Satz-Variationen und Repetitionen erklingt Fehrs Prosa wie eine fein strukturierte Sprachkomposition und erinnert an das Schweizer Guggisberglied mit seinem Refrain «Simelibärg!». Urschweizerisch sind auch viele Ausdrücke, die der Autor verwendet. «Hurensiech», «Pflotsch» oder «Pfünder» werden im angehängten Glossar für die Nicht-Schweizer erklärt.
Düsterer Kosmos
Die eigenwillige Sprache lenkt fast davon ab, dass «Simeliberg» auch eine spannende Geschichte ist. Fehr entfaltet einen düsteren Kosmos einer Schweizer Dorfgemeinschaft, in der jeder sich selbst am nächsten ist. Ein Sumpf – im doppeldeutigen Sinne – ist der Hauptaustragungsort, ein «Unort», «Abort». Dort trifft sich im Haus des fanatischen Bauern Schwarz eine Gruppe von stumpfsinnigen Jungen – «zu dumm zum Selberdenken», bewaffnet und uniformiert. Sie lassen sich von Schwarz für seine Zwecke instrumentalisieren. Und sie werden teuer dafür bezahlen, denn «Verbarmen» kennt Schwarz nicht. Der Gemeindsverwalter Griese versucht sich derweil einen Reim auf die Geschehnisse zu machen, verstrickt sich aber immer mehr darin – und wird zum Hauptverdächtigen.
Wie in Stein gemeisselt
Das zweite und mehrfach ausgezeichnete Werk des 33-jährigen Autors überzeugt, sofern man sich auf das ungewöhnliche Lese-Abenteuer einlässt. Fehr folgt in seinen Texten strengen Kompositionsregeln, die er sich selbst auferlegt hat. Für «Simeliberg» hat er diese etwas gelockert. Dennoch erscheinen seine Sätze wie in Stein gemeisselt. Er behandelt sie wie eine Skulptur, an der er immer mehr und mehr abschleift, bis am Schluss nur noch das schlichte Kerngerüst übrig bleibt, die Essenz.
Lesung
Babelsprech
Michael Fehr bringt junge Dichterinnen und Dichter auf die Bühne
Fr/Sa, 10.4./11.4., 22.00 Schlachthaus Theater Bern
Buch
Michael Fehr
«Simeliberg»
144 Seiten
(Der gesunde Menschenversand 2015).