kulturtipp: Warum schreiben Sie über Verbrechen und nicht Ihre Rosenzucht im Garten?
Val McDermid: Menschen in Extremsituationen sind spannend, weil sie anders reagieren als im Alltag. So lernt man ihren Charakter am besten kennen. Leben und Tod sind für uns am wichtigsten; es gibt nichts Bedeutenderes für uns.
Und darum schreiben Sie darüber?
Im Haus meiner Grosseltern hatte es nur die Bibel und einen Roman von Agatha Christie. Die Bibel interessierte mich nicht, also wählte ich das andere Buch. So kam es, dass ich «Mord im Pfarrhaus» unzählige Mal gelesen habe.
Sie fühlen sich vom Verbrechen verfolgt.
Ich habe ein friedliches privates Leben, das Verbrechen bestimmt aber meinen Beruf. Ich kann allerdings gut unterscheiden zwischen Realität und Fiktion. Am Abend finde ich mich in meinem Privatleben prima zurecht. Ich schliesse die Tür, und keiner stirbt mehr vor dem Frühstück.
Sie wandten sich mit Ihrem neuen Buch «Anatomie des Verbrechens» dem wirklichen Leben zu.
Ja, das war der Auftrag einer Stiftung, die dieses Buch im Zusammenhang mit einer Ausstellung über die Forensik bestellte. Zuerst wollte ich das ablehnen, denn ich ziehe erfundene Geschichten einem Sachbuch vor. Die Recherche ist mir zu aufwendig. Gerade bei einem Fachgebiet wie Forensik muss man sehr genau sein, denn es gibt immer Spezialisten, die alles besser wissen. Darum habe ich zahlreiche Fachleute interviewt, erst so bin ich auf die richtigen Fragen gestossen und konnte dieses Buch schreiben. Damit ergeben sich die psychologischen Aspekte, die in solchen Fällen wichtig sind.
Sie warnten vor zu vielen Details in einem Buch, denn diese langweilten nur.
Das stimmt für fiktionale Texte. Ich setze in einem Roman auf wenige recherchierte Fakten, aber ich muss wissen, welcher Sachverhalt wirklich wichtig ist, muss also aus dem recherchierten Material auswählen können.
Kriminalschriftsteller sind für Sie Outsider der Gesellschaft.
Man braucht eine gewisse Distanz, um eine Geschichte in einen weiten sozialen Kontext einzubauen. Man darf niemals über allzu Persönliches schreiben, andernfalls wird die Geschichte zur einer Polemik und nicht zu einem Roman. Sozialkritik ist nötig, aber sie darf lediglich im Hintergrund spürbar sein und ja nicht zur Propaganda werden.
Sie charakterisieren den Thriller als einen Sozialkommentar.
Das ist er, weil wir mit Krimis das gesamte Gesellschaftsleben spiegeln – vom Täter über das Opfer bis zu all den Zeugen. Früher war das anders, da setzten sie auf eine Klasse. Man braucht heute ein gewisses Klassenbewusstsein, um die ganze Gesellschaft darzustellen.
Agatha Christie blieb bei ihrer gesellschaftlichen Klasse, Ruth Rendell schrieb über alle Schichten.
Das ist eine Frage der Zeit, der Thriller hat sich mit der Gesellschaft weiterentwickelt. Christie hat wunderbare Geschichten mit raffinierter Handlung geschrieben, alles andere interessierte sie nicht.
Welche politische Botschaft wollen Sie Ihren Lesern vermitteln?
Ich habe keine. Sollte ich damit anfangen, dann würde ich sehr schlechte Bücher schreiben. Ich will vielmehr glaubwürdige Charaktere schaffen, Protagonisten, die bei den Lesern ankommen, weil sie ihnen vertraut sind. Die Leser wollen deshalb wissen, was mit diesen Leuten passiert. Aber Sie haben recht, ich bin ein politisch denkender Mensch, und deshalb fliessen meine Überzeugungen in die Bücher hinein; ich steure das indes nicht bewusst.
Sie sind politisch sehr aktiv.
Ich habe in meinem Leben stets für dies oder jenes gekämpft, etwa für die Unabhängigkeit Schottlands. Aber ich darf nicht zu dick auftragen, sonst verliere ich viele Leser, die meine Überzeugungen nicht teilen.
Wann immer Sie etwas in der Öffentlichkeit verlauten lassen, wird das ernst genommen, seien es Frauenrechte oder die schottische Unabhängigkeit.
Das erstaunt mich immer wieder und schmeichelt mir. Aber ich kann nichts Gescheiteres sagen als alle andern auch. Ich bin ja kein Orakel.
Sie identifizieren sich mit Ihren Heldinnen, wie etwa der Ermittlerin Lindsay Gordon.
Das war meine erste Protagonistin. Jede Schriftstellerin identifiziert sich in den ersten Büchern mit einer Hauptfigur. Das ist menschlich; man hat noch keine Technik entwickelt, um sich emotional von einem Text abzusetzen. Aber die Leser bringen oftmals Protagonisten und Autor durcheinander. Das kann ich zwar nachvollziehen, ist aber lächerlich. Leser waren schon erstaunt, dass ich keine roten Haare trage, obwohl eine meiner Ermittlerinnen rothaarig ist.
Leser verspüren das Bedürfnis, die Autoren durch die Protagonisten kennenzulernen.
Deshalb muss man den Figuren stets etwas Geheimnisvolles verleihen. Als Schriftstellerin muss ich ein eigenes, privates Leben führen, das niemanden etwas angeht. Ich muss meine Tür gegenüber der Öffentlichkeit schliessen können.
Erfolgreiche Autorin und politische Aktivistin
Die 61-jährige Schriftstellerin Val McDermid kam im südschottischen Bergbaudorf Kirkcaldy zur Welt. Sie verbrachte einen grossen Teil ihrer Kindheit bei den Grosseltern und besuchte bereits mit 17 Jahren ein renommiertes College der Universität Oxford. Zuerst schlug sie eine akademische Laufbahn ein, dann fand sie über den Journalismus zur Kriminalliteratur. Sie gehört heute zu den erfolgreichsten Schriftstellerinnen in Grossbritannien. Val McDermid ist eine linke Aktivistin, sie setzt sich vor allem für die Unabhängigkeit Schottlands ein sowie gegen die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Sie hat zahlreiche Romane geschrieben, meistens Reihen mit fiktiven Ermittlern wie Lindsay Gordon oder Tony Hill und Carol Jordan. In diesem Frühjahr ist ihr Sachbuch «Anatomie des Verbrechens» erschienen über die Geschichte der Forensik.
Bücher
Val McDermid «Anatomie des Verbrechens»
384 Seiten
(Knaus 2016).
Val McDermid
«Der lange Atem der Vergangenheit»
448 Seiten
(Droemer Knaur 2015).