Vaddey Ratner: Der Terror in Kinderaugen
Die kambodschanische Autorin Vaddey Ratner verarbeitet im Roman «Im Schatten des Banyanbaums» den Kriegsschrecken ihrer Kindheit.
Inhalt
Kulturtipp 12/2014
Letzte Aktualisierung:
29.05.2014
Eric Breitinger
April 1975, Phnom Penh. Der Terror schleicht sich langsam in das Leben der siebenjährigen Raami, dem Nesthäkchen der Grossfamilie eines Angehörigen des kambodschanischen Königshauses. Zuerst hört sie ihren Vater, einen Dichter und Uni-Dozenten, seufzen, dass die Strassen voll obdachloser Menschen seien. Dann explodieren Bomben in der Ferne. Die Köchin verschwindet. Wenig später dringt ein Kerl in Schwarz ins Haus ein. Der Rote Khmer zwingt die Familie m...
April 1975, Phnom Penh. Der Terror schleicht sich langsam in das Leben der siebenjährigen Raami, dem Nesthäkchen der Grossfamilie eines Angehörigen des kambodschanischen Königshauses. Zuerst hört sie ihren Vater, einen Dichter und Uni-Dozenten, seufzen, dass die Strassen voll obdachloser Menschen seien. Dann explodieren Bomben in der Ferne. Die Köchin verschwindet. Wenig später dringt ein Kerl in Schwarz ins Haus ein. Der Rote Khmer zwingt die Familie mit vorgehaltener Pistole im Namen der Revolution, ihre Villa und die Stadt zu verlassen – der Beginn eines Martyriums.
Die maoistische Guerillabewegung ermordete in den Jahren 1975 bis 1979 bis zu zwei Millionen Menschen, um in Kambodscha ihre Utopie einer klassenlosen, bäuerlichen Gesellschaft ohne Geld, Individualismus und westliche Einflüsse zu realisieren.
Leben im Lager
Die Autorin Vaddey Ratner war bei der Machtübernahme fünf Jahre alt. Sie erzählt ihre Geschichte nun aus der Kinderperspektive. Das ist die Stärke des Buches: Das Mädchen schaut unvoreingenommen auf den Alltag im Arbeitslager, wo sie ihre Herkunft verbergen muss. Sie schildert anrührende Szenen. So nimmt ein älteres Bauernpaar sie, ihre kleine Schwester und die Mutter in der Hütte auf – teilt alles mit ihnen. Bauer Pok zimmert nach dem Malaria-Tod der Schwester sogar einen Sarg für sie, ein Akt der Menschlichkeit. Denn für die Roten Khmer sind die Leichen der Feinde «nur Dünger fürs Feld».
Die kindliche Erzählperspektive hat aber Schwächen: Die Kleine kann ihre Erlebnisse nicht historisch einordnen und versteht die Motive und Ideologie der Täter nicht. So bringt das Buch seinen Lesern das Menschheitsverbrechen näher, trägt aber kaum zum Verständnis der Hintergründe bei. Ein erklärendes Nachwort fehlt.
Viele Leser dürfte zuweilen der Stil irritieren. Die an sich so nüchtern erzählende Autorin verfällt etwa bei Landschaftsbeschreibungen in einen metaphorischen, lyrischen Stil. Für Ratner ist dies eine Hommage an den Vater, den Dichter. Er rettete sie damals, indem er sich im Lager der Roten Khmer als einziger Angehöriger der königlichen Familie ausgab. Sein Todesurteil. Seine Tochter blieb unerkannt.
Vaddey Ratner
«Im Schatten des Banyanbaums»
381 Seiten
(Unionsverlag 2014).