Endlich konnte ich letzten Monat Wanderungen im Kanton Graubünden unternehmen. Ich war bisher nicht viel in dieser Gegend gewesen, obwohl ich mich für ihre vielfältige Kultur besonders interessiere. Ich wollte schon lange einmal wissen, weshalb im Kantonswappen drei verschiedene Einzelwappen abgebildet sind. Es war für mich interessant zu erfahren, wie Napoleon vieles bewirkte und änderte, dass die drei Bünde sich zusammen zum Schweizer Kanton Graubünden schlossen.
Im Bündnerland wurde mir bewusst, dass Wandern vielleicht der einzige Geheimtipp ist, der fast alle Schweizerinnen und Schweizer verbindet. «Und ich, was treibt mich eigentlich an, es immer wieder zu wagen?», fragte ich mich an diesem Morgen in aller Frühe beim Binden meiner Wanderschuhe.
Die Nacht verbrachte ich bei einem Freund, der – wie ich – aus dem Irak stammt und nun in einem Dorf in der Region Lenzerheide lebt. Ich wollte eine sechsstündige Höhenwanderung vom Schanfigg nach Tschiertschen machen. Nur in wenigen Häusern im Dorf brannte gelbes Licht. Der Rest lag noch schweigend im Dunkeln. Ich saugte den Duft der Landschaft ein und brach auf.
Wandern ist für mich zu einer Tätigkeit geworden, bei der ich mich besser verstehen kann. Ich fühle keinerlei Befremdung und spüre den Rhythmus meiner Schritte besser. Auch meine Muttersprache Arabisch erhält dadurch eine gewisse Freiheit. Der endlose Horizont der Alpen und die Helligkeit der Wälder befreien das Arabische in mir und lösen viele Worte aus ihrem Kummer heraus. Zwischen den Bäumen habe ich das Gefühl, als ob mir die Suche nach meiner Geschichte besser gelingt. Die Geschichte meines Exils, die meist durch meine Finger rinnt, wenn ich sie zu fassen versuche.
Der Geruch von Heu und warmen Feldern lässt meine Gedanken frei fliessen. Ich erinnere mich an den Sommer im Südirak und an meine Kindheit, wie ich mich darüber freute, wenn mich mein Grossvater zu seinem Dattelpalmenfeld mitnahm. Die Süsse der dunkelbraunen Datteln schmecke ich immer noch auf meiner Zunge, und ich höre noch den Wind, der den Duft der Palmen in die Weite trieb.
Kein Lebewesen trägt die Krone der Schöpfung so erhaben wie der Baum, sage ich mir immer wieder, wenn ich in den Wald gehe. Und manchmal erscheint mir mein Leben wie der flüchtige Schatten eines fliegenden Vogels zwischen zwei Bäumen.
Die Liebe zum Wandern habe ich Anfang 2002, als ich in die Schweiz flüchtete, kennengelernt. Im Irak waren für mich Wald, Berge und lange Strecken rein imaginäre Begriffe. Der Krieg hat die schönsten Bedeutungen der Natur vertrieben und die Menschen so konditioniert, dass sie beim Gedanken an die Nähe zur Natur mit dem Gefühl von Angst reagieren. Jahrzehntelang versanken die schönen irakischen Dattelwälder, die in der Antike einmal in Mesopotamien lagen, in Vergessenheit. Die Hitze des Krieges liess die Liebe zur Natur schmelzen.
Im Irak half mir das Schreiben, um mich von der Aussichtslosigkeit der Diktatur und dem sinnlosen Tod abzulenken. Nach der Flucht kam das Wandern dazu, um meinen fliegenden Schatten richtig zu betrachten. In der Natur fühle ich mich angekommen und gerettet, und trotzdem kann ich die Sprache des Krieges nicht immer vermeiden. Sie schleicht sich in meine Texte ein und streift meine Sätze unvermittelt. Ich versuche, die Worte vom Krieg zu befreien, wie einen Fisch, der in einem dichten Netz gefangen ist. Wie oft scheitere ich, meine Worte in einen anderen Kontext zu bringen, und wie oft muss ich feststellen, dass ein Wort dabei seine Färbung verliert. Ich sage mir: Dem Krieg zu entkommen und ins Exil fliehen zu können, bedeutet nicht unbedingt zu überleben, denn überleben tut nur derjenige, der akzeptiert, was in seiner Sprache nach dem Krieg und nach der Ankunft im Exil passiert.
Wandern ist Bewegung, auch in der Sprache. Es bringt mir die Farben einiger Wörter meiner Muttersprache zurück, und ich kann andere, die mein Menschsein im Irak behinderten, verbannen. Es lässt auch neue Worte entstehen und verwandelt die Zeit in einen Dialog, der zwischen mir und meinen Sprachen stattfindet.
In der Schweiz wurden Schreiben und Wandern meine Mittel, um das Gefühl des Fremdseins zu bekämpfen, aber sie weckten gleichzeitig die Neugier, durch jene Tür hindurchzugehen, die vielleicht in den geheimnisvollen Raum des Lebens führt. Beim Schreiben wie beim Wandern weiss ich nicht, womit ich belohnt werde, und ich kann nicht alles detailliert planen. Eine ungeplante Zusatzschleife zu nehmen, gehört immer dazu, und das ist es, was mich an den beiden Tätigkeiten fasziniert. Wenn ich auf Arabisch denke und auf Deutsch schreibe, erscheint mir dies manchmal, wie einen herunterfliessenden Bergbach zu beobachten; man weiss nicht, was zuerst das Tal erreichen wird, das Wasser oder sein Geräusch.
Im Wandern, wie auch beim Schreiben, bin ich ein Anfänger – egal, wie gross meine Erfahrung ist. Im Wald suche ich den richtigen Weg, und im Schreiben bin ich das Kind, das am Strand der Sprachen krabbelt, um das richtige Wort zu suchen. Es fällt mir allerdings leichter, meine eigene Sprache zwischen den Bäumen zu finden. In der reinen Luft der Berge bin ich authentisch, vertraue meiner Stimme mehr, und es gelingt mir oft, den Augenblick unverstellt zu erleben – ein Augenblick, in dem die Sprache ein neues Licht erhält. Viele Szenen meiner Geschichte finde ich in der dünnen Luft der Berge, die vor mir verweilt, wieder. Ich sammle sie, lasse sie in mir wachsen und mache mir Gedanken über die Gebärmutter jeder Szene. Gebärmutter heisst auf Arabisch «Rahm» und stammt von «Rahma», dem arabischen Wort für Barmherzigkeit. Die Nähe zur Natur ist für mich die Rückkehr in die Gebärmutter aller Seelen meines Lebens. Nur da spüre ich das Exil nicht. Ich lehne mich an einen Baumstamm, ohne den Drang, denken zu müssen, ich könnte aus diesem Paradies vertrieben werden. In der Tiefe des Waldes bin ich beheimatet, wie im Schoss meiner Mutter. «Der Baum», «al Schadschara», ist auf Arabisch weiblich.
Mit der Luftseilbahn schwebte ich nach Lenzerheide zurück, wo ich aus der Tiefe des Tals den Blick auf die grossartige Bergwelt genoss, die blendend schön war. Mit der Abendröte betrat ich die kleine Wohnung meines Freundes. Müde, aber glücklich. Auch das gelbe Licht war in einigen Häusern des Dorfes schon zu sehen.
«Du kannst Schweizer und Ausländer am Licht der Häuser unterscheiden: Schweizer gelb und gedämpft, Ausländer weiss und grell», sagte mir mein Freund. Ich schaltete das Licht im Zimmer ein. Es war gelb. Er erwiderte: «Na ja. Wer gerne wandert, darf sich auch als Schweizer fühlen.»
Usama Al Shahmani
Usama Al Shahmani, geboren 1971 in Bagdad und aufgewachsen in Qalat Sukar im Irak, hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert. Er publizierte drei Bücher über arabische Literatur, bevor er 2002 wegen eines Theaterstücks fliehen musste und in die Schweiz kam. Er arbeitet heute als Dolmetscher und Kulturvermittler und übersetzt ins Arabische. Sein erster Roman «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» wurde mehrfach ausgezeichnet. Kürzlich ist sein neuer Roman «Im Fallen lernt die Feder fliegen» im Limmat Verlag erschienen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Frauenfeld.