Wandern? Der Iraker Usama Al Shahmani ist irritiert, als er 2002 im Asylheim im Kanton Aargau von einer hier wohnhaften Irakerin von dieser Freizeitbeschäftigung erfährt. «Es war für mich unbegreiflich zu hören, dass die Leute in der Schweiz zu Fuss gehen – in Wäldern, Bergen, Tälern, auf schwierigen Wegen, um einfach nur zu wandern. Wir gehen, laufen, spazieren und bummeln. Aber wandern, das können wir nicht.» Im Arabischen gibt es nicht einmal ein Wort dafür. Hingegen habe «die arabische Sprache zahlreiche Synonyme für Heimat». «Für mich ist der Krieg das Einzige, das zu meiner Heimat passt.»
Von den Mühen eines Neuanfangs
In seinem Buch «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» schildert der 47-jährige Literaturwissenschafter Usama Al Shahmani eindrücklich seine Familiengeschichte unter dem irakischen Diktator Saddam Hussein und seine neue Existenz in der Schweiz. Es ist eine Gratwanderung, in einem der friedlichsten Länder der Welt zu wohnen, während ihn Katastrophenmeldungen aus der Heimat erreichen. Im Frühling 2006, Al Shahmani verteilt gerade im aargauischen Bremgarten Flyer für einen Pizzadienst, ereilt ihn der Anruf seines Bruders Naser aus Bagdad. «Es tut mir sehr leid», fängt er unheilvoll an. Ihr Bruder Ali sei in Bagdad verschwunden.
Es ist einer dieser anrührenden Momente, in dem klar wird: Wer flüchtet, lässt viel zurück. Al Shahmani muss wegen seines regimekritischen Theaterstücks in die Schweiz fliehen. Hier ist er ein erwerbsloser Geduldeter: die «Bitterkeit der Fremde im Gesicht wie die Spuren von Hautkrebs». In einem bedächtigen Tempo erzählt er, wie mühsam der schonungslose Neuanfang ist. «Es ist schwierig, in einem System, wo alles dicht verknüpft und verbunden ist, eine Lücke zu finden, in die ein Fremder hineinschlüpfen kann.» Wenn ihn die Sorgen fortan erdrücken, dann geht er wandern. «Ich musste alles auf null zurücksetzen, um das Neue zu entdecken», sagt der Autor auf Nachfrage.
Leben mit der Angst um die Zurückgelassenen
Al Shahmani gelingt es, seinen Platz in der hiesigen Gesellschaft zu finden. Er arbeitet als Übersetzer, heiratet, lebt in Frauenfeld. Inzwischen hat er sich daran gewöhnt, dass es keine Checkpoints gibt und aufgegebene Briefe auch ankommen. «Ich spürte, wie tief meine Liebe zum Leben war, wie dankbar ich war, hier leben zu dürfen, ohne Angst und Zwang», schreibt er. Doch es ist eine doppelte Realität: halb in der sichtbaren Welt der Übersättigten, halb in einem unsichtbaren Nebel der permanenten Angst um die Zurückgelassenen. 2008 beschliesst die Familie, die Suche nach Ali aufzugeben. «Ich denke, eine der Terrorgruppen oder bewaffneten Milizen haben ihn entführt und getötet», sagt Al Shahmani. Seine in Buchform gegossenen Erinnerungen muten dem Leser viel zu und verdeutlichen, dass man keine gültige Ausrede für den eigenen Wohlstand hat.
Lesungen
Fr, 2.11., 19.00 Kaffee-Treff Agathu Kreuzlingen TG
Fr, 9.11., 21.00 Bibliothek Sproochbrugg Zuckenriet SG (Schweizer Erzählnacht)
Fr, 16.11., 18.30 Pfarreizentrum Heilig Geist Zürich
Verleihung Förderpreis Stadt Frauenfeld an Al Shahmani:
Fr, 30.11., 19.00 Rathaus Frauenfeld TG
Buch
Usama Al Shahmani
In der Fremde sprechen die Bäume arabisch
192 Seiten
(Limmat Verlag 2018)