Lesen und hören in einem: Diese Erfahrung ermöglicht «Föhn – Ein Mythos in Wort und Musik». «Föhn» ist eine Art Dokumentation des im September 2014 am Theater Basel uraufgeführten gleichnamigen Musiktheaterstückes. Der Basler Autor Urs Widmer (1938–2014) hatte den Text dazu geschrieben. Dies auf Initiative des Zürcher Sängers und Theatermannes Christian Zehnder. Die Musik zu «Föhn» komponierte der Bündner Fortunat Frölich.
Archaisches Spiel
Zehnder, der das Stück auch inszenierte, zeigte sich seit längerem fasziniert vom Föhn als «archaischem, zyklischem Wetter- und Dramenspiel unserer Kulturlandschaft». Mit Erstaunen habe er festgestellt, dass dieses prägende, ja existenzielle Phänomen kaum Niederschlag gefunden habe in der alpinen Literatur, Musik- und Theaterwelt – mit Ausnahme von Friedrich Schillers Sturm auf dem Urnersee in «Wilhelm Tell». Zehnder sah also Handlungsbedarf und setzte dem Föhn ein spartenübergreifendes kulturelles Denkmal.
Das Bühnenstück entstand nach komplizierter Vorgeschichte. Die Produktionsbedingungen am Theater Basel hätten zu mehreren Verschiebungen, Konzeptänderungen und «schmerzlichen Kompromissen» geführt, so Zehnder. Urs Widmer, der sich die Rolle des Erzählers selbst auf den Leib geschrieben hatte, verstarb ein halbes Jahr vor der Uraufführung.
Die nun erschienene Edition dokumentiert diesen Prozess auf besondere Weise. Sie umfasst Widmers Urtext und ein am Bühnenstück orientiertes Hörspiel aus Text, Musik und Geräuschen. Zudem gibt es weitere Texte Widmers, die den Änderungen und Kürzungen zum Opfer fielen.
Brutstätte des Föhns
Zehnder und Frölich haben Erläuterungen und Beobachtungen zur Produktion notiert, am Schluss des schön gestalteten Bandes finden sich Fotos der Basler Inszenierung. Man kann den «Föhn» also gleichzeitig lesen sowie hören und wird zudem Zeuge seines komplizierten Entstehungsprozesses.
Das Stück erinnert formal an ein altgriechisches Drama, kommt aber noch komplexer daher. Ein Erzähler (für Widmer sprang der Aargauer Schauspieler Hansrudolf Twerenbold ein) erzählt den Mythos vom Mannsberg, der trutzigen Brutstätte des Föhns. Ein Bauer und eine Bäuerin, die im Schatten des Bergs leben, sprechen Dialoge in einem schrill-urigen Kunstdialekt. Umrahmt werden diese Texte von einem Chor, der laut Komponist Frölich für die Talbewohner steht. Es singt eine Föhnfrau (Sopranistin Susanne Elmark), und ein Orchester (Ensemble Phoenix) intoniert die Natur.
Die Musik hört sich entsprechend dynamisch an mit organischen Bewegungen und fulminanten Steigerungen bis hin zur «Kakofonie» (Zitat Frölich). Der Text changiert zwischen Idylle, Komödie, zuweilen gar Posse und philosophisch-existenzialistischer Betrachtung. Urs Widmer, der beim Schreiben schon sehr krank war, sieht im Föhn eine Liebesgöttin, aber auch den Todbringer. Sein Text führt in die windgepeitschte Apokalypse. Das Lesen-Hören dieser ungewöhnlichen Edition wird somit zur eindrücklichen Begleitung Urs Widmers auf seiner letzten Schreib-Reise.
Hörbuch, Buch & CD
Urs Widmer, Fortunat Frölich, Christian Zehnder
«Föhn – Ein Mythos in Wort und Musik»
(Rüffer & Rub 2016).