Urs Widmer Im Fiebertraum
In seinen elf alten und neuen Geschichten im Erzählband «Stille Post» schweift Urs Widmer virtuos durch Raum und Zeit.
Inhalt
Kulturtipp 20/2011
Letzte Aktualisierung:
05.03.2013
Babina Cathomen
«Im Anfang war eine Stille; das All, still, still.» Rhythmisch beginnt Urs Widmer seinen Schöpfungsmythos, in dem die Götter Wesen aus Trommelfell sind und die Menschen von Vögeln abstammen. Er lässt die Leserschaft in einen Farbenrausch eintauchen, wo die Farben «Yal, Chnu, Fibittl und Shnö» sich mit den herkömmlichen Farben vereinen und «alles wie im Fieber tobte». In einem Fiebertraum wähnt man sich zuweilen tatsäc...
«Im Anfang war eine Stille; das All, still, still.» Rhythmisch beginnt Urs Widmer seinen Schöpfungsmythos, in dem die Götter Wesen aus Trommelfell sind und die Menschen von Vögeln abstammen. Er lässt die Leserschaft in einen Farbenrausch eintauchen, wo die Farben «Yal, Chnu, Fibittl und Shnö» sich mit den herkömmlichen Farben vereinen und «alles wie im Fieber tobte». In einem Fiebertraum wähnt man sich zuweilen tatsächlich, wenn man sich auf Widmers überschäumende Fantasiewelten einlässt, hinab in die düsteren, lustigen, grausigen, zynischen, abgründigen, gesellschaftskritischen, poetischen Gefilde.
In seinen elf Geschichten, die zumeist bereits in Zeitschriften erschienen sind, lotet der in Zürich lebende Autor alle sprachlichen und inhaltlichen Möglichkeiten aus. Grauenerregendes und humorvolle Leichtigkeit liegen stets nahe beieinander: In «Macht und Ohnmacht» etwa lässt er den Sklaven, den Mächtigen, dessen Mutter, den Folterer, den Höchsten Geistlichen und den Pressesprecher zu Wort kommen und entlarvt dabei die grausamen, absurden Machtstrukturen und gesellschaftlichen Zustände. Von der Opferkultur Afrika ist da die Rede, die kulturell vorbereitet ist auf das Gefressenwerden. Oder von der Aufklärung, die bis zum letzten Blutstropfen durchgesetzt werden muss.
In «Grappa und Risotto» hingegen erzählt er im Schwung eines einzigen Satzes seine Familiengeschichte und lässt über die Tante mit dem Bart, die Tante mit den nassen Küssen, den blöden Cousin und die scharfe Cousine schmunzeln. Und manchmal kippt Widmer auch innerhalb eines Abschnitts von der Idylle ins Grauen: «Timbuktu ist herrlich. In der Sonne leuchtende Lehmmauern, goldene Dächer. Flirrende Luft. Palmen. Verhungernde Menschen in den Gassen, das auch; wir sind in Afrika», schreibt er etwa in der Erzählung «In Timbuktu» über sein Sehnsuchtsziel.
Das Experiment «Stille Post», in der eine seiner Geschichten durch die Welt reist, sechs Übersetzungen erfährt und schliesslich in einer ganz anderen, «bierernsten, moraltriefenden» Form zu ihm zurückkehrt, zeigt schliesslich, was das widmersche Universum ausmacht: Die Sprache, und der ihm ganz eigene Ton.
[Buch]
Urs Widmer
Stille Post. Kleine Prosa
176 Seiten (Diogenes 2011).
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