In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die Jüngste war so schön, dass die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie in ihr Gesicht schien …
Vor einem grossen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern …
Erinnern Sie sich an diese wunderbaren Märchenanfänge! Stellen Sie sich einen Augenblick vor, Kinder würden ohne Geschichten aufwachsen. Oder Sie selbst wären ohne Geschichten aufgewachsen.
Keine sehr schöne Vorstellung, nicht wahr? Kinder lieben und brauchen Geschichten. Geschichten sind die kleinen und grossen Türen zur Welt.
Das Eintauchen in die Welt der Bücher will aber gelernt sein – möglichst früh: An Ihrer Hand öffnet sich so die Tür zu diesem «grenzenlosesten aller Abenteuer». Vorlesen ist eine Art begleitete Expedition, wo neue Welten – und damit auch die eigene – zu entdecken sind. Sich mit einem anderen Ich identifizieren, ermöglicht das Erkennen des eigenen Ichs. Das Wesen des Menschseins schlechthin. Wenn ein Kind sich in einem anderen Wesen spiegelt, erfährt es intuitiv psychische Vorgänge, auch wenn es sie noch nicht intellektuell versteht. Kindern, denen in ihrer Kindheit der Zugang zu Geschichten verwehrt blieb, bleibt diese Welt oft ein Leben lang verschlossen – mit weitreichenden Konsequenzen für die Entwicklung ihrer Lesekompetenz und den Erfolg in der Schule.
Vorlesen ist die Mutter des Lesens, sagte Goethe.
Vorlesen formt neuronale Strukturen für die Lernkompetenz. Vorlesen vermittelt Lesemotivation. Vorlesen fördert Sprach- und Ausdrucksfähigkeit. Vorleserituale stärken die Sozialkompetenz der Kinder, sie schaffen Geborgenheit und Nähe, sie vermitteln Impulse für Familien und Kindergruppen. Untersuchungen haben ergeben, dass nur etwa ein Drittel aller Kinder in den Genuss von regelmässigem Vorlesen kommen. Und nur acht Prozent der Väter lesen vor! Vorlesen sollte zum täglichen Brot in der Familie gehören. Das kostet Zeit. Aber diese Zeit ist mit Sicherheit eine der kostbarsten Investitionen, die man sich denken kann. Leider heisst die Formel: je bildungsferner die Familie, desto weniger wird gelesen, somit wird auch wenig bis gar nicht vorgelesen.
Noch einmal: Es sind die Erzählungen, Märchen und andere Geschichten, die all die Türen zur Welt öffnen. Für immer öffnen! Als Schriftsteller weiss ich das besonders gut, denn ohne meine Neugier auf die Welt, die durch viele Geschichten und Erzählungen nachhaltig geweckt worden ist, hätte ich nie mit Schreiben angefangen. Ich hatte zum Glück einen Grossvater auf dem Bauernhof meines Patenonkels, der über einen schier unendlichen Fundus an Geschichten verfügte, die er uns Kindern erzählte. Ich habe nicht nur die Geschichten geliebt, sondern er hat mir durch das Geschichtenerzählen auch einen neuen Blick auf meine Welt, auf meine unmittelbare Umgebung ermöglicht. Durch seine Geschichten, die für mich als Kind sehr real waren, verfügte ich nach und nach über einen Erfahrungsschatz, mit dem ich meine Wirklichkeit vergleichen, einordnen, ja, besser verstehen konnte. Sobald ich lesen konnte, habe ich dann alle Bücher gelesen, denen ich habhaft werden konnte. So habe ich weite Teile der Welt kennengelernt. Ich war ein Indianer in der Savanne; ein tollkühner Ritter auf einem weissen Pferd; ein Junge, der am Mississippi einen Holzzaun anstreichen musste; ich war Pirat; ich kämpfte im Dienste ihrer Majestät, war ein Waisenkind in London und sogar eine rothaarige Anführerin einer Bande. Ich bin mit Delfinen um die Wette geschwommen, ein schwarzes Pferd war mein Freund, und ich habe einsam auf einer Insel überlebt. Unendlich ist die Liste meiner Abenteuer und Welterfahrung, die mir Bücher verschafft haben.
Seinem Kind Geschichten erzählen und vorlesen: Das gehört zu den vornehmsten und wichtigsten kulturellen Aufgaben von Eltern. Dort, wo es zum Schaden des Kindes nicht (mehr) oder ungenügend stattfindet, tut dringend Aufklärung Not.
Insbesondere für Jungs ist es ausserordentlich wichtig, dass sie in ihrer ersten Lebensphase nachhaltig positive Erfahrungen mit Sprache, inneren Bildern und mit ihrer und fremder Fantasie machen. Das führt dazu, dass nicht nur ihre äussere Motorik entwickelt und lustbesetzt wird, sondern auch die innere. Entscheidend ist dies auch für die Entwicklung von empathischen Fähigkeiten.
Das berühmte «Durchhängen» von Jugendlichen, Alkoholismus, Motivationslosigkeit gegenüber Arbeit und überhaupt gegenüber unserer Gesellschaft und Umwelt, Gewaltbereitschaft usw. lassen sich zu einem grossen Teil auf Bildungsunlust oder noch schlimmer: auf Bildungsunfähigkeit zurückführen, begleitet von einem erheblichen Mangel an Empathie.
Oder anders gesagt: Wer ein kreatives Mitglied unserer Gesellschaft werden will, muss über eine ganze Reihe von Kompetenzen verfügen. Lesekompetenz und Empathie gehören an vorderster Stelle dazu. Und hier schliesst sich ein weiterer Kreis: Lesekompetenz führt zu Medienkompetenz und erleichtert damit soziale Kompetenz.
Zuletzt will ich Ihnen das grösste Geheimnis verraten: Vorlesen macht Spass.
Falls Sie es noch nicht tun, fangen Sie heute Abend an. Viel Vergnügen!
Urs Schaub
Der 66-jährige Basler Urs Schaub ist Regisseur, Autor und leidenschaftlicher Vorleser. Er ist Leiter des Projekts Leseförderung beim Erziehungsdepartement in Basel.
Zuletzt ist von ihm der Krimi «Die Schneckeninsel» (Limmat Verlag) erschienen.
Urs Schaub betreibt die Schreib- und Buchwerkstatt «Buchkinder Basel» (www.buchkinderbasel.ch).