Es geschieht, als ich mich, zu Fuss, meinen kleinen Koffer in der Hand, vom Bahnhof entferne: Spazierend denke ich an dem Buch herum, in dem ich im Zug gelesen habe, ein Buch mit dem Titel «Das rationale Tier», das Werk eines Kognitionsbiologen, der mich auf 577 Seiten einlädt, über die Frage nachzudenken, ob Tiere Gefühle, Bewusstsein und Verstand haben – und was das überhaupt heissen könnte: Gefühle, Bewusstsein und Verstand.
Ich gehe, wie immer am Dienstagabend, an einem bunten Laden entlang, der Artikel für Haustiere verkauft; verblüffend viele verblüffend bunte Artikel für Haustiere, gedacht wahrscheinlich für Menschen, die gut spüren, wie viele Gefühle, wie viel Bewusstsein und Verstand ihr Haustier besitzt. Vor dem Laden rauchen sich wie immer zwei auffallend schwarz gekleidete Verkäuferinnen ihrem Feierabend entgegen. Sie sehen derart unbunt und unglücklich aus, dass mir rätselhaft scheint, wie sie in einem Laden arbeiten können, der spezialisiert ist auf das glückliche Miteinander von Mensch und Tier.
Ich spaziere also durch Biel, einen kleinen Koffer, meine kleinen Beobachtungen und meine kleinen Gedanken mit mir tragend, als er mit einem Mal direkt vor mir steht: ein Mann mit weit aufgerissenen Augen. Er mag 30-, 35-jährig sein, ausser Atem ist er, aufgebracht, und er hält sich fest an einem alten Damenrad. Er entschuldigt sich, mich anzusprechen; er fragt, ob ich in Biel wohne. Ich verneine und nehme an, das Gespräch habe damit bereits zu einem Ende gefunden, aber der Mann presst kurz seine Lippen zusammen, schaut mich an, arg verzweifelt, und spricht weiter. Es sei wichtig, sagt er mit gepresster Stimme, es sei wirklich sehr wichtig. Er habe sein Portemonnaie und sein Telefon verloren, müsse aber unbedingt nach Bern; ob ich nicht bereit wäre, ihm etwas Geld zu leihen.
Ich schaue ihn an; das rationale Tier in mir will wissen, ob Rausch- und Betäubungsmittel ihn haben verwahrlosen lassen. Seine Kleidung und sein Gesicht erwecken einen gepflegten Eindruck. Er erkennt mein Misstrauen; er versichert mir mehrfach, das Geld zurückzuzahlen, mit einem Einzahlungsschein oder mit Twint, ja, es verstehe sich von selbst, dass er mir das Geld zurückbezahlen werde, die Zugfahrt koste 20 Franken, es sei wirklich sehr wichtig, er bettle sonst überhaupt nicht, er habe heute einfach zu viel Pech gehabt, alles laufe schief, und er nennt mir seinen Namen. Ich dürfe, wenn ich wolle, seinen vollen Namen aufschreiben, ich erinnere mich jetzt nur noch an seinen Familiennamen, Reza, was mich an den sympathischen Mohammed Reza erinnert, mit dem ich einmal flüchtig befreundet war, und weil das rationale Tier in mir keinen Lügner in diesem Mann erkennen kann, fühle ich zwar immer noch viel Zurückhaltung in mir, aber ich sehe vor allem das verzweifelt um meine Hilfe bittende Gesicht des Herrn Reza. Aus meinem Portemonnaie hole ich 20 Franken; als ich sie ihm hinstrecke, sagt er, er benötige 40, denn zurückfahren müsse er ja auch.
Das lässt mich missmutig werden, aber die Verzweiflung im Gesicht meines Gegenübers ist wirklich gross. Also gebe ich Herrn Reza 40 Franken; er strahlt, bedankt sich herzlich, es scheint ihm ein mächtig schwerer Stein vom Herzen zu fallen. Ich hole, mangels Alternativen, mein Lesezeichen aus «Das rationale Tier», notiere meine Adresse und Telefonnummer. Reza schaut sich den Zettel aufmerksam an, bestätigt, alles lesen zu können, bestätigt, mir das Geld umgehend zurückzuzahlen, bedankt sich nochmals und macht sich dann auf den Weg. Nach einem kurzen Moment drehe ich mich um und sehe ihn auf dem alten Damenrad ziemlich flink zum Bahnhof rollen.
Das ist drei Wochen her; es wird wohl niemanden überraschen, dass ich mein Geld nicht zurückerhalten habe. Bin ich in dieser Geschichte das Tier mit zu viel Gefühl und zu wenig Verstand? Ist Reza der schamlose Lügner und Betrüger? Hat Reza gelernt, dass Menschen viel eher bereit sind, ihm Geld zu geben, wenn er ihnen seinen Namen nennt? Auch wenn es ein erfundener Name ist? Und hat er mich nur gefragt, ob ich in Biel wohne, weil er es, in Biel lebend, klug findet, nur jenen Menschen Geld abzuknöpfen, denen er in Biel nicht unbedingt über den Weg laufen wird? Oder ist Reza im Gegenteil der grundehrlichste Mensch, der, in grosser Eile zurück zum Bahnhof pedalierend, in einen Autounfall verwickelt worden ist, in einen Unfall, bei dem er viel von seiner Gesundheit und den Zettel mit meiner Adresse verloren hat?
Wird er also, aus dem Spital entlassen, vor dem Laden mit den bunten Artikeln für Haustiere stundenlang auf mich warten, darauf hoffend, mir mein Geld zurückzahlen zu können? Ich weiss es nicht, ich kann es nicht wissen. Ich merke, das rationale Tier in mir rät mir, fremden Menschen künftig keinerlei Vertrauen mehr zu schenken. Allerdings merke ich auch, wie wenig Lust ich habe, voller Misstrauen durch meine Tage zu gehen.
Es mag unwahrscheinlich sein, aber es lässt sich nicht ausschliessen, dass Herr Reza diesen kleinen Text hier liest, der ihn aufklären wird über meinen Namen. Falls dies so ist, lieber Herr Reza: Ich hoffe, Sie sind nicht verunfallt, ich hoffe, Sie haben lediglich meine Adresse verloren. Ich bin im Netz leicht zu finden, bitte schreiben Sie mir eine Mail. Und vielleicht sind Sie ja in Laune, mir nicht nur die 40 Franken zurückzugeben, sondern vor allem das Gefühl, das Leben auf dieser absurden Kugel doch mehrheitlich mit ehrlichen Zeitgenossen teilen zu dürfen.
Urs Mannhart
Urs Mannhart, geboren 1975, lebt als Schriftsteller, Reporter und Biolandwirt in La Chaux-de-Fonds. Er hat Zivildienst geleistet bei Grossraubwild-Biologen und Drogenkranken, hat ein Studium der Germanistik und der Philosophie abgebrochen, war Velokurier, Nachtwächter in einem Asylzentrum und absolvierte auf Demeter-Betrieben die landwirtschaftliche Ausbildung. Mannhart beschäftigt sich unter anderem mit Tier- philosophie. Sein literarisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Vor Kurzem ist sein Buch «Lentille – Aus dem Leben einer Kuh» (Matthes & Seitz Berlin) erschienen.