Er: Hallo?
Sie: Ja, hallo? Ist da wer?
Er: Fahrner, sagte ich schon.
Sie: Es gibt Sie tatsächlich. Und das mitten in der Badenfahrt.
Er: Wie – es gibt mich?!
Sie: Das Telefonbuch hier ist schon bisschen alt.
Er: Telefonbuch?
Sie: Ja. Aus Papier. Die früher zerrissen wurden, im Fernsehen, so schnell es ging.
Er: Ich versteh nicht ganz…
Sie: «Wetten, dass…?» war das. Egal. Da stehen Sie drin. Im Buch, meine ich.
Er: Und deshalb rufen Sie mich an? Mitten in der Badenfahrt.
Sie: Das war Zufall.
Er: Wer, was? Ich oder die Badenfahrt?
Sie: Ihre Nummer fiel mir zu.
Er: Hören Sie mal, wer sind Sie eigentlich?
Sie: Das kam jetzt ein bisschen spät. Andere hätten schon aufgelegt.
Er: Tatsächlich habe ich mir schon…
Sie: Sie sind anders. Grossherzig zwar, aber allein offenbar. Und in meinem Alter. Etwas über meiner Einkommensklasse, aber immerhin. Er: Wie kommen Sie auf so was?
Sie: Ihr Eintrag im Telefonbuch: Fahrner, Hansi. Schlösslistrasse Ennetbaden. Kein Doppelname, keine weiteren Einträge unter dieser Adresse, also Single.
Er: Sie stalken mich.
Sie: Single also, Hansi nennen sich die, die Hans zu langweilig finden, die kreativ sein wollen, aber doch nicht bis ins Letzte. Kein Künstler, aber immerhin. Werber, vermute ich mal, selbständig. Quartier zudem sauteuer, ein Bonzenkaff dort, ennet dem Fluss.
Er: Dann sind Sie von der anderen Seite.
Sie: Aber nicht vom anderen Ufer. Haha! Sehen Sie, ist doch ganz leicht, schon wirds vergnüglich. Bei Parship hätten Sie jetzt bereits 200 Franken liegen lassen.
Er: Dafür hätte ich dort ein Foto.
Sie: Immerhin haben Sie jetzt meine Nummer.
Er: Hab ich?
Sie: Auf dem Display, unterdrücken geht nicht so gut. Festnetz again.
Er: Stimmt, ich schreib sie mal auf.
Sie: Für die Polizei, war jetzt Ihr zweiter Gedanke.
Er: Nein, der erste Gedanke.
Sie: Und der zweite?
Er: Kein zweiter.
Sie: Eher Einfachdenker also.
Er: Was soll mir Ihre Nummer denn sagen?
Sie: Dieselbe Nummernhöhe wie Sie etwa, sind also ähnlich lange angemeldet mit dem Festanschluss, haben den noch, eher aus Nostalgie, sind uns also ähnlich und ähnlich alt.
Er: Könnte Wunschdenken sein.
Sie: Könnte, ja, aber ich höre: nein.
Er: Ich könnte zugezogen sein. Im hohen Alter.
Sie: Nein. Sie machen sich noch Hoffnungen, ist ein Quartier für Kinder, da drüben.
Er: Ich möchte jetzt wissen, wie Sie heissen.
Sie: Ich dachte, er fragt nie.
Er: Wie also?
Sie: Sie haben bereits sehr viel mehr erfahren, als ein Name sagen könnte.
Er: Ach ja?
Sie: Ich bin etwa so alt wie Sie. Offenbar Single, sonst würde ich jetzt nicht telefonieren, offensichtlich kinderlos, zumindest heute, und wohl etwas schüchtern.
Er: Schüchtern? Sie??!
Sie: Sonst würde ich die Badenfahrt rocken, nicht telefonieren.
Er: Schon lange Single?
Sie: Sehen Sie, Sie arbeiten an meiner Biografie. Jetzt zur Charakterisierung.
Er: Neugierig sind Sie, um es vorsichtig auszudrücken.
Sie: Richtig.
Er: Bis zur Anmassung.
Sie: Na ja.
Er: Vorlaut.
Sie: Je nach Gegenüber.
Er: Intelligent immerhin.
Sie: Und intelligent ist sexy.
Er: Finden Sie?
Sie: Finden die Frauen, ja, in aller Regel. Sie nicht?
Er: Sie sind also intelligent und sexy. Aber deswegen gleich die Katze im Sack kaufen?
Sie: Hm. Schön gesagt. Übersetzt: Sie schauen nur aufs Äussere.
Er: «Nur» haben Sie gesagt.
Sie: Ihr Misserfolg spricht allerdings gegen Ihre Auswahlmethoden.
Er: Misserfolg?
Sie: Sie sind Single. Schon lange. Wo ist Ihr Sinn für Abenteuer geblieben?
Er: Sie kennen mich von früher?
Sie: Ich kenne die Männer und ihre Legenden von früher.
Er: Ich kenne Frauen wie Sie und wie sie das Bild von früher wiederherstellen möchten.
Sie: Chirurgisch, meinen Sie? Ha! Sie tauen langsam auf.
Er: Ich denke eher, ich tauche jetzt ab. Zurück zu meiner Steuererklärung.
Sie: Da tun Sie gut daran. Steuerkommissäre sind manisch.
Er: Manisch… Ah – ah… jetzt!
Sie: Was?
Er: Ihr Beruf! Sie haben sich eben verraten.
Sie: Ja?
Er: Selber Steuerkommissärin!
…
Er: Sie schweigen plötzlich so laut.
Sie: Kantonal, aber Teilzeit.
Er: Und die andere Zeit?
Sie: Theaterautorin.
Er: Gute Mischung. Kommissärin und Autorin.
Sie: Finden Sie?
Er: Immer auf Recherche und Stoffsuche, stecken die Nase überall rein. Nehmen Sie dieses Gespräch auf?
Sie: Ich erinnere mich schöner im Nachhinein. Mir kommt eben eine Idee.
Er: Warum überrascht mich das nicht?
Sie: Sie haben den Gartentisch schon so gedreht, dass Sie das Feuerwerk über der Hochbrücke sehen, richtig?
Er: Etwas in der Art…
Sie: Spoiler, dieses Jahr gibt es gar kein Feuerwerk! Lassen wir es doch stattdessen ein wenig funken. Sie bringen den Wein.
Er: Und wo genau soll es… funken?
Sie: Auf der Ruine über der Stadt. Als Sinnbild unseres Zustandes, sozusagen. In einer Stunde.
Eine Stunde später.
Er: Hallo, Miss Holmes.
Sie: Und, Watson: enttäuscht?
Er: Von Ihrer äusseren Intelligenz, meinen Sie?
Sie: Gehen wir da rüber, weg von den Leuten?
Er: Kommt das hier auch vor in Ihrem Stück?
Sie: Bis jetzt nicht.
Er: Was ich mich gerade fragte… in Ihrem Stück dann – küssen sich da die beiden Unbekannten?
Sie: Das wird sich in der Recherche weisen.
Er: Ach so… Aber wissen Sie denn, wie das Stück endet?
Sie: Das hängt nun wieder vom Recherchekuss ab…
Zehn Minuten später löst er sich von ihr.
Er: Alle Achtung, Steuerkommissärinnen küssen fabelhaft.
Sie: Erwarte deshalb keine Erleichterung. Ich meine… bei der Steuer.
Er: Und… kennst du jetzt das Ende vom Theaterstück?
Sie: Ich hatte es mir mal so gedacht: einige Küsse mehr, der Mond wird praller und praller – symbolisch gesprochen –, sie verabschieden sich, sind verabredet für den nächsten Tag, der Mann kehrt euphorisch und irritiert nach Hause zurück, da macht es Klick. Denn die Tür steht offen und… sein Haus ist ausgeräumt!
Er: Ach… Sie: Ja.
Er: So hast du dir das gedacht in dem Stück, hm?
Sie: Ja.
Er: Er hat aber ihre Telefonnummer.
Sie: Die gehört zu einem Callcenter für Anti-Aging-Produkte.
Er: Ah. Etwas viel Fantasie, aber clever gesponnen.
Sie: Finde ich auch.
Er: Dann hat die Geschichte also kein Happyend.
Sie: Da müssen wir erst weiterrecherchieren. Nimm kurz mein Glas, ich muss mal schnell für kleine Mädchen.
Er: Toi, toi, toi, sagen wir da an der Badenfahrt nur…
Nach zehn Minuten ist sie noch nicht zurück. Nun dämmert es ihm plötzlich. Er wählt die 118.
Er: Hallo, ich muss einen Einbruch melden. Schlösslistrasse Ennetbaden. Gerade jetzt, ja, sie räumen alles aus, seit etwa einer halben Stunde, seither bin ich weg von zu Hause. Weshalb ich dann vom Einbruch weiss? Äh… nun ja…
Zur Person
Urs Augstburger wurde 1965 in Brugg geboren, er ist Journalist und Schriftsteller. Der literarische Durchbruch gelang ihm 2001 mit dem dritten Roman «Schattwand» und der damit verbundenen Bergtrilogie.
Sein elfter Roman «Das Tal der Schmetterlinge» ist diesen März im Bilgerverlag erschienen. In seinen multimedialen Liveprogrammen arbeitet er oft mit Monika Schärer zusammen. Im Duo präsentieren sie im August eine eigens für die Badenfahrt geschriebene Geschichte. Do, 24.8., 19.00, Salon vert, Baradore Sa, 26.8., 12.30, AZ-Media-Bistro Baden AG