Voyeurismus oder Kunst? Diese Frage stellt sich in Seidls Doku-Fiktionen regelmässig. In seinem neusten Film steigt er hinab in die Keller der Österreicher, die seit Fritzl und Priklopil in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt sind – hinab in menschliche Abgründe und unbewusste Gefilde. Der Zuschauer trifft etwa auf den Jäger, der hier seine Trophäen aufreiht: Vom Pavian bis zum Warzenschwein knallt er auf Safaris wahllos Tiere ab, die ihm vor die Flinte kommen. Ein anderer Keller-Besuch zeigt eine ältere Frau, die in Kartons täuschend echte Babypuppen lagert und sie liebkost, als wären sie aus Fleisch und Blut – Einsamkeit und Tristesse pur. Ulrich Seidl leuchtet die menschlichen Schwächen bis zur Grenze des Erträglichen aus.
Kein Mitleid, sondern Grauen erweckt der Nationalsozialist, der das Filmteam stolz in seinen mit zahlreichen Memorabilien ausgestatteten Keller führt, in dem er der Nazizeit huldigt. Das Gemälde von Hitler sei das schönste Hochzeitsgeschenk von allen gewesen, lässt er gerührt verlauten. Später wird man ihn und seine Kollegen sturzbetrunken im Nazi-Keller singen hören: «Ein Prosit der Gemütlichkeit.»
Ohne Tabus
Und natürlich begibt sich Seidl auch in die unergründlichen Lustgärten der Sexualität: So besucht er etwa den Sadomaso-Keller eines Burgtheater-Nachtwächters. Seine Frau Gemahlin, die «Herrin», schwärmt von ihren Spielzeugen wie der Hodenklammer und ähnlich Erquicklichem. Der nur mit einem Hundehalsband bekleidete «Sklave» schweigt daneben. Zu Wort kommt dafür eine andere Masochistin: «Ich liebe Schmerzen aller Art, da kann ich so richtig die Seele baumeln lassen.» Später wird man erfahren, dass sie bei der Caritas misshandelte Frauen betreut.
Irritation, Amüsement, Abscheu, Mitleid: Seidl löst bei den Zuschauern vielerlei Emotionen aus und wirft die Frage auf, wie viel Blossstellung zulässig ist – Tabus kennt er nicht. Die seelische und körperliche Entblössung der Menschen in seinen Filmen geschieht natürlich freiwillig. Seidl will damit gesellschaftliche Zustände abbilden, wie er gerne betont. Das überzeugt etwa, wenn er rassistische Tendenzen in der Gesellschaft aufdeckt, weniger bei der Vorführung von Vereinsamten und Freaks.
Inszenierung und Wirklichkeit verwischen sich bei Seidl bis zur Unkenntlichkeit. Seine Realität ist künstlich. Jedes seiner Bilder ist ein Kunstwerk – hyperstilisierte Stills, in denen die Menschen wirkungsvoll drapiert werden, sodass die Einsamkeit in ihrer ganzen Kälte zutage tritt. Nicht umsonst sind seine ästhetischen Standbilder auch in Ausstellungen oder Fotobänden zu sehen. Voyeurismus oder Kunst? Beides. Und definitiv kein Film für Zartbesaitete.
Buch
Ulrich Seidl
«Im Keller»
168 Seiten mit
Essays und 61 Abbildungen
(Benteli 2014).
Kino
Im Keller
Regie: Ulrich Seidl
Ab Do, 1.1., im Kino