Wortlos leuchteten die Männer den Kanal ab. Die Innenwandung. Die Schmutzrinne. Die Anschlüsse, die auf beiden Seiten unterschiedlich hoch und voneinander entfernt angebracht waren. Die Rattenkötel.
Harfenspiel. Die Bewegung des Wassers klang wie Harfenspiel, hin und wieder unterbrochen von einer Spülung, die oben, in der Welt der Ordnung und Normalität, gezogen wurde. Dann rutschte ein Häufchen Fäkalien, Papier oder anderes herunter, blieb auf dem Bankett liegen oder mischte sich in den Fluss des Wolfbachs und liess Wasserwellchen mit kleinen Kieseln über sich trudeln.
Scheu fühlte sich seltsam geborgen hier unten.
In regelmässigem Abstand wurden die Schachtdeckel gehoben, die Tag-Mannschaft ging mit. «Unsere Lebensversicherung. Irgendeiner muss ja Alarm schlagen können, wenn was ist.»
Aber es war nichts. Nichts ausser drei Männern, die Schritt für Schritt in einer Röhre abwärtswateten.
«Wie alt ist dieser Kanal?»
«So ganz genau lässt sich das nicht sagen», antwortete Cavelti, «etwas weiter vorne findet sich aber in die Wand gemeisselt die Jahreszahl 1864.» Und wie zum Plaudern aufgelegt oder einfach, um das Erinnerungsbild der toten Frau abzuwehren, berichtete er: «In der Stadt Zürich haben wir eintausend Kilometer öffentliches Kanalnetz. Die ganzen Kilometer privater Anschlüsse nicht mitgerechnet. Zwei Drittel des öffentlichen Kanalnetzes sind unbegehbar. Der Durchmesser liegt dort bei zweihundertfünfzig bis eintausend Millimetern.»
Scheu konzentrierte sich auf den Boden, der hier glitschig und beinahe spiegelglatt war. Cavelti bemerkte es und sagte: «Obacht!», seine Stimme wohlmeinend. Dann fuhr er mit seinem Bericht fort: «Wir prüfen den Zustand des Netzes in Intervallen. Wenn der Boden auskolkt, wenn sich die Sohle durch die stete Wasserströmung vertieft, müssen wir sanieren. Sie glauben ja nicht, was wir bei dieser Arbeit nicht schon alles gefunden haben! Portemonnaies, Taschen, ganze Registrierkassen sogar. Weggeworfene Hehlerware. Einmal einen Fuchs, der lebte noch. Der musste dann abgeschossen werden. War hinabgefallen und kam nicht mehr heraus.»
Vermutlich hatte diese Erinnerung Cavelti zu dem Bild, das er vermeiden wollte, zurückgeführt, denn der Kanalinspektor verstummte abrupt.
Sanft fragte Scheu: «Ist Ihnen bekannt, ob man bei der Frau eine Tasche gefunden hat?» Das Bild zu leugnen, wusste er jedenfalls, nützte nichts.
«Wir haben keine gesehen. Das hat uns der andere Polizist auch schon gefragt. Wir haben das alles schon gesagt.»
«Wem?»
«Einem Herrn Lutz.»
«Der ist auch hier?»
«Ihm haben wir alles schon gesagt.» Und ungesagt: Da gibts nichts mehr zu sagen.
«Hoppla, was ist denn hier plötzlich?», fragte Scheu, als sie nach einigen Metern stummen Vorantastens zu einem Streckenabschnitt gelangten, dessen Decke wie angehoben war.
«Hier sinds über vier Meter. Wir wissen nicht, weshalb man das damals so hoch gebaut hat.»
«Was befindet sich da oben?»
«Die Staatskellerei.»
Wortlos gingen sie weiter. Das Bächlein platschte und leckte an den Ufern, als wärs unterwegs im Walde. Jetzt, wo die Leiche mit ihrem Überangebot an süsslich faulendem Geruch mehrere Biegungen zurücklag, empfand Scheu fast so etwas wie Gewöhnung. Die steten Geräusche, die verlässliche Dunkelheit, die Köttel der Nagetiere, die eine oder andere unbeirrbare Spinne, der Lichtkegel, der die nächsten Schritte vorgab. Der Mann vor ihm und der Mann hinter ihm. Alles schien folgerichtig und in der dick abgewandeten Stille fast wie ein Platz im Universum, an dem das Gesetz von Ursache und Wirkung noch stimmte. Ein Platz, an dem eins und eins zwei ergab und nichts verwirrend war, nichts irreführend. Es ging entweder nach unten, in Richtung Limmatkanal, oder es ging nach oben, zum Wolfbachtobel im Wald. Die Steinquader waren aus gutem altem Jurakalk geschlagen, die Rinne im Fundament holperig ausgekolkt oder bereits saniert und gerundet. Wenn man achtgab, rutschte man nicht aus.
Bald folgte wiederum eine hohe Stelle, bei der sich die Männer zwischen Stangen hindurchschlängeln mussten, da hier die Decke abgespriesst war. Scheu gab sich alle Mühe. Das Harfenspiel. Er hätte ewig so weitergehen können.
Wenig oder auch lange später, hier unten konnte er die Zeit, die vergangen war, nicht richtig einschätzen, rief einer durch einen geöffneten Schachtdeckel aus der Oberwelt: «Langts jetzt?»
Cavelti drehte sich zu Scheu herum. «Was meinen Sie? Wollen Sie noch weiter oder können wir zurück?»
Scheu hatte nichts Auffälliges entdecken können. Er überlegte für einen weiteren Moment. Es gab keinen Grund, länger unten zu bleiben; auch spürte er Caveltis Ungeduld. Harfenspiel allein genügte eben nicht. Scheu kam es so vor, als ob er Abschied nehmen müsse. «Gut. Gehen wir raus», sagte er resigniert.
Das fahle Taglicht befremdete Scheu. Im Schacht war ihm wohler gewesen. Er senkte den Blick und tat es den anderen gleich, die ihre Stiefel mit Wasser aus dem Brunnen benetzten. «Nur fürs Ärgste», sagte Cavelti, «den Rest besorgt der Regen.» Dann trotteten sie hintereinander her durch die Gassen bis zurück auf den Hof des Schulhauses Wolfbach.
Wir gehen, als wären wir noch begrenzt von einer unsichtbaren Innenwandung, dachte Scheu und wappnete sich vor weiteren Eindrücken und Erinnerungsbildern, die auf ihn einstürzen würden.
Was wenige wussten und worüber man auch im Korps nicht gross sprach: Die Erinnerung war ein unberechenbarer Gefährte. Manchmal dauerte es lang, sehr lang, bis einer über gesehenes Unrecht hinwegkam. Scheu kannte das. Und ihm graute.
Michèle Minelli
Die 45-jährige Zürcher Schriftstellerin Michèle Minelli hat letztes Jahr ihre Familiengeschichte «Die Ruhelosen» in Romanform veröffentlicht. Am 9.9. erscheint ihr erster Kriminalroman «Wassergrab» im Aufbau Verlag.