Unrühmliche Vergangenheit
Franz Hohler verknüpft in seinem neuen Roman «Gleis 4» das heutige Zürich Oerlikon mit der Schweiz der 40er- und 50er-Jahre, als Verdingkinder und ledige Mütter ein schweres Los hatten.
Inhalt
Kulturtipp 16/2013
Babina Cathomen
Kaum ist Franz Hohler 70 geworden, liegt schon ein neuer Roman bereit. Einmal mehr begibt er sich darin an seinen eigenen Wohnort in Zürich Oerlikon. Am Bahnhof auf Gleis 4 nimmt das Schicksal seinen Lauf: «Darf ich Ihnen den Koffer tragen?», fragt ein älterer Herr die Protagonistin Isabelle höflich – und bricht kurz darauf tot zusammen. Isabelle, auf dem Weg zum Flughafen, fühlt sich verantwortlich und verpasst wegen ihrer Zeugenaussage den Flug nach Str...
Kaum ist Franz Hohler 70 geworden, liegt schon ein neuer Roman bereit. Einmal mehr begibt er sich darin an seinen eigenen Wohnort in Zürich Oerlikon. Am Bahnhof auf Gleis 4 nimmt das Schicksal seinen Lauf: «Darf ich Ihnen den Koffer tragen?», fragt ein älterer Herr die Protagonistin Isabelle höflich – und bricht kurz darauf tot zusammen. Isabelle, auf dem Weg zum Flughafen, fühlt sich verantwortlich und verpasst wegen ihrer Zeugenaussage den Flug nach Stromboli.
Fremder Gentleman
Der Vorfall lässt sie nicht mehr los, sie sagt ihre Reise – auch aus gesundheitlichen Gründen – ab und beginnt, Nachforschungen anzustellen. Wer war der fremde Gentleman, der ihr kurz vor seinem Tod den Koffer tragen wollte? Und was hat es mit den anonymen Anrufen auf sich, die auf dem Handy des Toten eingehen? Denn in der Hitze des Gefechts hatte Isabelle die Mappe des fremden Mannes versehentlich mitgenommen. Und aus dieser klingelt es plötzlich . . . Am Apparat ist ein Mann, der in harschem Ton nach einem Marcel fragt, ihm das Auftauchen auf dem Oerliker Friedhof verbietet und, ohne auf Antwort zu warten, auflegt. Isabelles Neugierde ist nun endgültig geweckt.
Schriftsteller Franz Hohler schmiedet in seinem neusten Werk einen regelrechten Krimi-Plot. Für einmal stellt er drei Frauen ins Zentrum: Zur selbst ernannten Ermittlerin Isabelle gesellen sich deren 22-jährige Tochter Sarah sowie Véronique, die kanadische Witwe des Verstorbenen. Von der Pflegefamilie ihres Gatten mit Schweizer Wurzeln weiss diese beinahe nichts – geschweige denn, warum er sich in den 60ern in Kanada einen neuen Namen geben liess.
Mehr Pfiff
Nach und nach deckt das Trio die düstere Vergangenheit auf und fördert Unrühmliches aus den 40er- und 50er-Jahren der Schweiz zutage: Véroniques Gatte stammte aus einer Generation, als die Behörden und die Gesellschaft unzimperlich mit unverheirateten Müttern oder mit Verdingkindern umgesprungen sind.
Altmeister Franz Hohler versteht sein Handwerk: Mit solide gestrickter Handlung, sorgfältiger Charakterzeichnung und sprachlichem Feinschliff kann er auch in seinem jüngsten Werk überzeugen. Einen rechten Sog vermag der Roman diesmal dennoch nicht zu entwickeln: Hohlers Detailbeschreibungen aus dem Alltag, wie er sie in zahlreichen Erzählungen erfolgreich erprobt hat, wirken im Roman mit der Zeit ermüdend. Der Witz und der Fantasiereichtum anderer Werke blitzen leider nur sporadisch auf. Etwas mehr Pfiff, ein paar satirische Spitzen auf die Gesellschaft oder Absurditäten aus dem Alltag, wie man sie sonst vom Kabarettisten Hohler kennt, hätten dem Roman gut getan.
Franz Hohler
«Gleis 4»
224 Seiten
(Luchterhand 2013).