Eine schwindelerregende Achterbahnfahrt, rauf und runter, ohne Boden unter den Füssen: So geht es Horváths Figuren Kasimir und Karoline nicht nur am Münchner Oktoberfest, wo das Stück spielt, sondern auch im Alltag, zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise 1929. Sie sind Getriebene des Schicksals, wissen oft selbst nicht, wie ihnen geschieht. Kasimir hat seine Arbeit verloren, seine Verlobte Karoline hingegen will sich auf dem Jahrmarkt amüsieren, für einmal den harten Alltag vergessen. Doch sie geraten in Streit und gehen auf dem Jahrmarkt getrennte Wege: Karoline bleibt nicht lange allein, Verehrer wie der Zuschneider Schürzinger, der dicke Kommerzienrat Rauch und der Landgerichtsdirektor Speer scharen sich um sie. Und Kasimir gerät an den Kleinganoven Merkl Franz und dessen Freundin Erna, betrinkt sich mit ihnen und steht Schmiere, als Franz auf dem Parkplatz Autos aufbricht.
«Und die Liebe höret nimmer auf», dieses ironische Motto hat Horváth seinem Stück vorangestellt. Denn die Liebe unterliegt in Zeiten der Krise dem Marktwert. Die besser Betuchten haben die besseren Chancen. Der arbeitslose Kasimir gehört nicht zu ihnen, und so lässt sich seine Verlobte von Schürzinger auf die Achterbahn führen, von Rauch und Speer aushalten. Kasimir bleibt nur der Frust. Zu einer Versöhnung des Paars kommt es nicht.
Die deutsche Theatermacherin Ulrike Quade, die in Amsterdam ihre eigene Kompanie leitet, setzt das Stück auf ungewohnte Weise um: In ihren Arbeiten verbindet sie Schauspiel, Tanz, Performance und Musik mit dem Puppenspiel, das sie in Japan studiert hat. In «Kasimir und Karoline» sind nebst fünf Schauspielern zwei täuschend echt aussehende Puppen als die Figuren Speer und Rauch im Einsatz. Zudem steht ein riesiger Mädchenkopf für die beiden Nebenfiguren Elli und Maria – zwei junge Frauen, die kein Geld fürs Bier haben und darum für die Männer ihre Röckchen schwingen lassen, um dennoch zu ihrem Jahrmarkts-Vergnügen zu kommen. Bespielt werden die Puppen jeweils von den Tänzern Ivan Blagajcevic, Raakesh Sukesh und Cat Smits.
Ins Heute versetzt
Ulrike Quade versetzt das Stück in die heutige Zeit. Es spiele in einer «Jahrmarkt-Disco-Atmosphäre», erklärt sie am Rand der Proben. Die Bühne ist aufgeteilt in mehrere Zonen – vom DJ-Pult über die Bar bis zur VIP-Lounge, die den Reichen vorbehalten ist. «Der Text handelt von der Weltwirtschaftskrise, aber auch von einer allgemeinen menschlichen Krise – jeder bewegt sich in seiner eigenen Blase, ist mit Eigenliebe beschäftigt. Die Kommunikation ist unterbrochen», sagt sie.
Horváths Anspielungen auf das freudsche Unterbewusstsein interessieren die Regisseurin besonders. Sigmund Freuds psychoanalytische Theorien kamen um die Jahrhundertwende auf und waren in den 20ern hochaktuell. Viele Schriftsteller haben diese in ihre Werke und Figurenzeichnung einfliessen lassen. Horváth selbst hat in seinem bekanntesten Roman «Jugend ohne Gott» einer Figur Eigenschaften von Freud zugeschrieben.
Quade nimmt das Unterbewusste in ihre Inszenierung auf – etwa Kasimirs unterdrückte Wut darüber, dass er die Ansprüche seiner Verlobten nicht erfüllen kann und ihm Männer mit Geld seine Karoline ausspannen. Grimmige Bulldoggenköpfe versinnbildlichen diese unterdrückten Aggressionen. Horváth lässt in einer Szene ein ganzes Repertoire an Zirkus-Freaks auftreten – nebst dem «Mann mit dem Bulldoggkopf» etwa «die dicke Dame» oder der «Liliputaner». In Quades Inszenierung fordern diese von Konventionen befreiten Freaks die anderen Figuren heraus, die rationale Ebene zu verlassen und eine surreale Fantasie- oder Traum-Ebene zu betreten.
Wirkung der Puppen
Sie wolle in ihren Arbeiten Bilder weiterentwickeln, die im Text nur angetönt werden, sagt Quade. Gerade durch das Puppenspiel lassen sich diese Bilder besonders gut gestalten: «Mit Puppen kann man in einer Aussage viel weiter gehen als mit echten Menschen. Was bei einem Schauspieler schnell zu pathetisch wirkt, hat mit Puppen eine andere Wirkung. Durch sie lässt sich das Innenleben darstellen, und man kann mit ihnen dahin kommen, wo Sprache alleine nicht hinreicht.»
Die Offenheit, sich auf ein Theater-Abenteuer einzulassen, sollte das Publikum für die tragikomisch-surreale Inszenierung in Basel laut Quade mitbringen und dabei am besten gleich selbst einsteigen in die Achterbahn menschlicher Gefühle.
Bühne
Kasimir und Karoline
Premiere: Do, 27.11., 20.00 Theater Basel
Film
Kasimir und Karoline
Regie: Ben von Grafenstein, 2010
So, 16.11., 11.00 Kult.Kino Basel
Anschliessendes Gespräch mit Schauspiel-Leiter Martin Wigger und Regisseurin Ulrike Quade