Das Restaurant befand sich auf Pfählen, gebaut am Rand des Hafenbeckens. Empfangen wurden wir von einem Kellner, der uns auf jene überschwänglich amerikanische Art begrüsste, die uns allen schon aufgefallen war, und der wir misstrauten. Umso mehr, als dieser Kellner nachsehen wollte, ob der für uns reservierte Tisch noch frei sei.
Wir, das waren meine drei Damen und ich.
Ups, leider nicht mehr frei!, meldete der Kellner.
Sichtlich bemüht, uns bei Laune zu halten, bot er uns strahlend, wild mit den Speisekarten in der einen und einem weissen Tuch in der andern Hand gestikulierend, eine Alternative an. Es war ein Tisch im hinteren Teil des Restaurants, der sich zwar auch am Wasser befand, jedoch ohne den prächtigen Ausblick über die Bucht auf das offene Meer hinaus und der zudem völlig ungeschützt in der noch immer kräftigen, prallen Sonne stand.
Ob uns die Sonne etwas ausmache?, fragte er und wedelte mit seinem Tuch schon über den noch ungedeckten Tisch, als müsste er diesen abstauben.
Diese Sonne würde ja wohl auch mal untergehen, sagte ich.
Genau so sei es, das verspreche er uns. Gleich komme auch die für uns zuständige Bedienung.
She will be with you right away.
Wir waren noch immer sehr angetan von diesem Rockland, von diesem Licht und diesen Blautönen, diesem ganzen Amerika. Aber rein gastronomisch fühlten wir uns doch ziemlich verlassen, unterversorgt, vernachlässigt, ja vergessen, wenn auch unter einem munter vor sich hinflatternden Sternenbanner. Wir schmorten geduldig in der Sonne wie vier Hähnchen auf einem Grill und übten uns in Gelassenheit.
Als dann doch endlich eine Bedienung auftauchte, kam sie buchstäblich angelatscht, da ihr bei jedem Schritt ihre Flip-Flops gegen die nackten Füsse klatschten. How are you? Sie heisse McKenzie und werde sich heute um uns kümmern.
Sorry, we are very busy!, sagte sie noch, versprach, gleich Wasser und Brot zu bringen, und war, ohne eine Bestellung aufzunehmen, wieder weg.
Als sie nach ein paar Minuten schon mal Teller und Besteck brachte, hatte sie weder Brot noch Wasser dabei und schob mit einer ganzen Reihe von Entschuldigungen die Aufnahme der Bestellung abermals hinaus.
Eine der Damen sagte nach einer Weile, schade, dass sich das so hinziehe, sie habe sich so gefreut auf dieses Essen und diesen Maine-Hummer, der sie so neugierig und hungrig gemacht habe. Und eine andere Dame nahm die Kellnerin gegen eine Bemerkung meinerseits in Schutz. Papa, du hast noch nie im Service gearbeitet!
Es muss unsere Rücksicht auf diese überforderte Bedienung namens McKenzie gewesen sein, die uns davon abhielt, als wir endlich bestellen konnten, nach Details zu fragen. Wie isst man dies, oder wie wird das genau serviert? Kann man Hummer auch geniessen, wenn man nie wusste oder vergessen hat, wie genau man so ein Tier mundgerecht zerlegt und knackt? Stattdessen bestellten wir ins Blaue hinaus, hungrig und durstig, wie wir waren, wild drauflos.
Als Erstes kam in nussschalengrossen Pappbechern jene in ganz Amerika übliche Beilage, die sich coleslaw nennt und bei der es sich nun wirklich um eines der grössten kulinarischen Missverständnisse überhaupt handeln muss. Ein mickeriges Portiönchen süsses gefärbtes Sauerkraut!
Dann kamen Muscheln, grosse und kleine.
Dann kam das Wasser.
Dann kam auf unser Bitten hin auch so etwas wie Brot.
Irgendwann mal kam sogar der bestellte Chardonnay.
Dann kamen ziemlich lächerliche kleine Brustschürzen aus Plastik, die man sich um den Hals band, und in briefmarkengrossen Umschlägen für jeden eine winzige angefeuchtete Serviette anstelle einer Schale mit Zitronenwasser.
Und dann kam viermal Hummer!
Es waren grosse, rote, grimmige Viecher, die, mit gefährlichen Krallen und Klemmen ausgerüstet, weit über die Tellerränder hinausgriffen und uns hämisch anstarrten.
Jetzt knack mich mal!, schienen sie zu sagen, und wir starrten unsererseits auf die Waffen, die uns McKenzie als Besteck neben unsere Teller gelegt hatte, bevor sie abermals verschwunden war.
Wir schauten einander an, die Damen kicherten, eine schluckte leer, eine zuckte mit den Schultern und berührte ihren Hummer vorsichtig mit spitzen Fingern am Schwanz, hob diesen hoch, um zu sehen, ob sich des Rätsels Lösung vielleicht in Form einer Öffnung auf der Bauchseite des Vieches befand.
Die Zange, die neben meinem Teller lag, erinnerte mich zwar an meinen Zahnarzt. Aber da sie nun mal da war, versuchte ich, damit meinen Hummer zu packen und zu knacken, denn irgendwie musste dieser rote Panzer ja zu entfernen sein.
Das war zwar nicht einfach, und es war Arbeit, aber die erste Bresche war geschlagen, und ich war eben dabei, ein weiteres Stück Rückenpanzer anzuschneiden und wegzureissen, als sich am Nachbarstisch abrupt ein Mann erhob, sich an unseren Tisch stellte und ziemlich beleidigt und unbändig sagte:
You guys are driving me nuts!
Als hätte er uns alle eines Verbrechens überführt, bedrohte er uns mit bösen Blicken, fragte noch, woher wir kämen, denn so, wie wir uns anstellten, könnten wir nicht aus der Gegend sein.
Und schon griff er mir in den Teller, als wäre dies die selbstverständlichste Geste der Welt, packte meinen Hummer, brach ihn krachend entzwei und steckte absolut ungefragt seinen blossen Finger am einen Ende so hinein, dass am andern Ende erst grauer Saft, dann grüner Schleim rausspritzte und dann ein längliches, steakgrosses, weisses, weiches Stück Hummerfleisch auf meinen Teller flutschte.
Überrumpelt sassen wir da und staunten. Die Damen machten nicht nur grosse Augen, sie sahen auch aus, als wüssten sie nicht, ob sie lachen oder sich empören sollten.
Ich aber wusste, als nach dem herausgestossenen Hummerfleisch auch noch dieser amerikanische Finger in meinem Hummer zum Vorschein kam, dass mir dieser Finger selbstverständlich etwas sagen wollte. Dieser fremde Finger, der mich unmittelbar vor meinem Gesicht aus einem Hummer heraus anstarrte, war mehr als ein Finger! Das war das entschlusskräftige Amerika in seiner ganzen Macht, in seiner ganzen kulturellen ÜBERLEGENHEIT. Und ich wusste, noch bevor der gute Mann vom Nachbartisch diesen Finger auch den Damen ebenso ungefragt wie ungewaschen in ihren Hummer gesteckt hatte, dass ich mich so bald als möglich in Ruhe an einen Tisch setzen musste, um dies alles aufzuschreiben.
Beat Sterchi
1949 in Bern geboren, lebt Beat Sterchi heute wieder in seiner Heimatstadt. Nach einer Metzgerlehre wanderte er nach Vancouver aus, wo er ein Anglistik-Studium absolvierte. Dann gings nach Honduras, Montreal und Spanien. 1983 erschien sein Roman «Blösch». «Der Finger» ist ein Auszug aus dem noch unerschienenen Text «Die Hand, der Finger, das Knie».
www.beatsterchi.ch