Tobias hat ein Mond-Poster an seiner Zimmerdecke hängen, auf seinem Pult steht das Modell einer Saturn-V-Rakete. Tobias ist 11, weiss aber exakt, wie alles ablaufen wird im Juni, wenn die Apollo-11-Mission auf dem Mond landen wird. Es ist Frühling 1969, Tobias teilt seine kribbelige Vorfreude auf den historischen Flug mit der halben Welt (siehe auch Seite 10). Doch dann geschieht Seltsames im Kölner Vorort, wo Tobias mit seinen Eltern lebt; der Vater Ingenieur in leitender Stellung, die Mutter Hausfrau.
Im Nebenhaus ziehen die Leinhards ein: er Philosophieprofessor, sie Übersetzerin, beide erklärte Kommunisten und Eltern der 13-jährigen Rosa. «Ich hatte den Eindruck, dass sie anders waren als meine Eltern – anders auf eine Weise, die ich noch nicht erfassen konnte», schreibt Ich-Erzähler Tobias. Vor allem von Rosa, die Romane liest, Janis Joplin hört und über Geschlechterrollen redet, ist Tobias zuerst verwirrt, dann fasziniert, schliesslich betört.
Nacht mit dramatischen Wendungen
Ulrich Woelk blendet mit «Der Sommer meiner Mutter» in die eigene Kindheit zurück. Der Kölner Autor mit Jahrgang 1960 hat Astrophysik studiert und ist der Figur des Tobias sehr nahe. Zudem fängt er den Zeitgeist der 60er-Jahre in Deutschland mit einer Präzision und Ironie ein, die nur in Selbsterlebtem gründen kann. Dass Tobias in der Ich-Perspektive erzählt, ist stimmig bis ins Sprachliche hinein. Zuweilen aber – was gewöhnungsbedürftig ist – funken Erinnerungen des erwachsenen Tobias dazwischen.
Tobias erklärt Rosa alles über das Abenteuer Mondlandung, Rosa geht es freilich um andere Abenteuer, die auch Tobias neue Erlebniswelten eröffnen. Parallel dazu emanzipiert sich Tobias’ Mutter, und so kommt es, dass beide in der Nacht der Mondlandung erotische Aus- und Aufbrüche erleben. Für Tobias hat diese Nacht dramatische Wendungen zur Folge: «Ich hatte den Mond verloren.»
Woelk, der seit seinem Debüt «Freigang» von 1990 zahlreiche Romane, Stücke, Hörspiele und Fachbücher schrieb, ist ein unterhaltsames Sommerbuch gelungen. Die knisternde Coming-of-Age-Geschichte nimmt überraschende Wendungen.
Buch
Ulrich Woelk
Der Sommer meiner Mutter
189 Seiten
(C.H. Beck 2019)