Der französische Sprachgelehrte Gilles Ménage soll 1654 beim Lesen einer Übersetzung aus dem Lateinischen ausgerufen haben, sie erinnere ihn an eine Bekannte, die schön, aber treulos sei. Als «belles infidèles» bezeichnet man seither Übersetzungen, die elegant und schön sind, es mit der inhaltlichen Treue zum Original aber nicht sehr genau nehmen.
Aber: Merken wir als Lesende einer Übersetzung überhaupt, ob sie dem Original treu ist oder nicht? Und ist das für die Lektüre relevant? Wie oft lesen wir Romane und beachten kaum, ob es sich um eine Übersetzung oder einen Originaltext handelt. Dabei beträgt der Anteil an übersetzten Werken an der gesamten Buchproduktion in Deutschland immerhin einen Achtel (12,4 Prozent, gemäss Börsenverein des deutschen Buchhandels). Damit ist die Frage von Treue und Untreue auch bei Übersetzungen keineswegs harmlos.
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es kulturspezifisch und auch politisch motiviert war, ob man schöne Treulose förderte oder Treue forderte. So war es im 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich ausdrückliches Ziel von Übersetzungen aus dem Griechischen und Lateinischen, die antiken Texte an die Erwartungen und den Geschmack des höfischen Publikums anzupassen. Nicolas Perrot d’Ablancourt etwa, ein berühmter Übersetzer von griechischen und lateinischen Klassikern und Mitglied der Académie française, wurde dafür gelobt, dass seine Texte schöner, eleganter und galanter seien als die Originale. Die Absicht war, aus den fremden Dichtern Franzosen zu machen und sie im vollkommensten Französisch sprechen zu lassen.
Es geht bei Übersetzungen um die grundsätzliche Frage: Soll dem Leser durch die Übersetzung das Fremde des anderssprachigen Originals vermittelt werden, oder im Gegenteil, soll er den Eindruck haben, ein deutsches Original zu lesen? Der deutsche Philosoph Friedrich Schleiermacher meinte 1813 in seiner Vorlesung über die verschiedenen Methoden des Übersetzens: «Entweder der Übersetzer lässt den Schriftsteller möglichst in Ruhe und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er lässt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.» Letzteres bedeutet, dass der fremdsprachige Text an Wissen und Erwartungen des deutschen Lesers angepasst wird, also eine treulose Schöne, «wie wenn der Verfasser sich in einen Deutschen verwandelt hat». Ersteres hingegen wäre die treue Übersetzung, bei der sich der Übersetzer bemühe, «durch seine Arbeit dem Leser das Verstehen der Ursprache, das ihm fehlt, zu ersetzen» und die Leser an eine «ihnen eigentlich fremde Stelle hinzubewegen». Auch Heinrich Heine, der im Französischen und im Deutschen gleichermassen zu Hause war, fragte 1834 im Vorwort der französischen Übersetzung seiner «Reisebilder», ob das Publikum die fremde Originalität kennenlernen, nämlich ein deutsches Buch in französischer Sprache lesen soll.
Heute lässt sich beobachten, dass Rezensionen, wenn sie überhaupt die Übersetzungsarbeit mit mehr als der Angabe des Übersetzernamens würdigen, meist mangelnde Texttreue in Details kritisieren. Andererseits verlangen Verlage oft die Eindeutschung von fremden Bezeichnungen, «um dem deutschen Publikum das Lesen nicht unnötig zu erschweren». Es geht also auch heute noch um die Frage, ob ein fremdsprachiger Text mittels Übersetzung in die zielsprachige Kultur einverleibt, das heisst assimiliert wird, oder ob sich die «fremde Originalität» in der deutschen Übersetzung zeigen darf, ob eine «Métissage», eine Vermischung dem Leser zugemutet wird.
Übersetzungen von literarischen Werken aus fremden Kulturen zeigen, wie die zielsprachige Kultur mit Fremdem umgehen will. Soll es assimiliert werden, oder darf etwas Hybrides entstehen? Dürfen Übersetzer und Übersetzerinnen das Fremdsprachige aufnehmen, die Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschen erweitern, also ein fremd(sprachig)es Buch in deutscher Sprache schreiben? Ja, auf jeden Fall, antworten wir als aufgeklärte Lesende. Zurückhaltender sind die Verlage aus kommerzieller Sicht, erreichen solche anspruchsvollere Texte ein breites Lesepublikum? Nicht zu unterschätzen ist auch das Problem, ob die Abgrenzung einer solchen schöpferischen Hybridübersetzung (eine treue Schöne) von einer schlechten wortwörtlichen (unschönen Treuen) vom überlasteten Verlagslektorat geleistet werden kann.
Mein Schlussplädoyer aus Sicht einer Leserin und Autorin (ich bin keine literarische Übersetzerin): Wir wollen Übersetzungen lesen, weil sie uns die Welt auf andere Kulturen und Denkweisen öffnen, und wir wollen heute im globalisierten Zeitalter die «fremde Originalität» von anderssprachigen Texten erfahren, weil sie das Deutsche befruchten. Eine «belle fidèle», eine treue Schöne, stellt jedoch sehr hohe Erwartungen an Wissen und Können von Übersetzenden: Doch die schöpferische Leistung der literarischen Übersetzungsarbeit wird nach wie vor viel zu wenig beachtet und honoriert, weder von Verlagen noch vom Feuilleton und auch viel zu wenig von den Lesenden. Literarisches Übersetzen ist als Schöpfungsakt vergleichbar mit der Schaffung eines Originals: andersartig, aber mindestens gleichwertig, denn es ist zusätzlich zur sprachschöpferischen eine kulturelle Transferleistung.