Grösser könnte der Gegensatz nicht sein: Hier das beschauliche Lenzburg, dort die pulsierenden Grossstädte Berlin, Moskau oder Tel Aviv, in denen Olga Grjasnowa gelebt hat. Aber die junge Autorin mit den jüdisch-aser-baidschanischen Wurzeln hat ein Flair für Gegensätze. «Hier passiert im positiven Sinne gar nichts – und ich nutze die Ruhe zum Recherchieren, Schreiben und Lesen», sagt sie und tischt dem Besuch Tee mit Zopf und Schokolade auf ihrer idyllischen Terrasse im Atelier Müllerhaus auf. Sie wirkt wie das nette Mädchen von nebenan, ihre Bücher aber sind ausgerüstet mit scharfen Pfeilspitzen. Mit ihrem radikalen Roman «Der Russe ist einer, der Birken liebt» hat sie 2012 im Literaturbetrieb Aufsehen erregt. Nun hat sie den Pfeil-Köcher neu gefüllt und legt mit dem Roman «Die juristische Unschärfe einer Ehe» nach.
Alles ist möglich
Mit viel Witz und in rasantem Tempo – das in etwa ihrem Sprechtempo entspricht – berichtet sie darin von einer Dreiecks-Liebesgeschichte zwischen Berlin, Moskau und Baku/Aserbaidschan: Im Mittelpunkt steht die junge aserbaidschanische Balletttänzerin Leyla, die ihren Körper einem fast unmenschlichen Drill unterzieht. Sie ist mit dem muslimischen, eigentlich homosexuellen Psychiater Altay in einer nicht nur platonischen Scheinehe verbunden, fühlt sich aber auch zu der jüdischen Kunststudentin Jonoun hingezogen. Während der erste Teil im hippen Berlin Kreuzberg spielt, entdeckt das Dreiergespann im zweiten Teil den Kaukasus. Mit kritischem Blick schaut die Autorin auf die Länder, in denen die postsowjetische Oligarchie ihre Spuren hinterlassen hat und Homophobie verbreitet ist.
Dazu fängt sie den Groove der behüteten, meist gut ausgebildeten, aber orientierungslosen Generation der unter 30-Jährigen ein: Ihre drei Protagonisten lassen sich weder auf ein bestimmtes Lebensmodell, noch auf eine sexuelle Orientierung oder Nationalität festlegen. Alles ist möglich, allerdings auch kompliziert. «Liebe war für sie ohnehin nur ein temporäres Konzept. Es hielt sie nicht lange an einem Ort und vor allem nicht bei einem Menschen.» Dieses Statement von Jonoun passt auch zu den beiden anderen Figuren.
Das Lebensgefühl auf der Überholspur ist der Autorin selbst nicht ganz fremd. Mit 11 Jahren ist sie mit ihrer Familie aus Aserbaidschan nach Deutschland geflüchtet. Seither hat sie in verschiedenen Ländern gelebt und in Leipzig und Moskau die Literaturinstitute besucht. Mit ihren unsteten Figuren mag sie sich dennoch nicht identifizieren. Die Ehe etwa, die sie in ihrem Roman als höchst fragiles Gebilde beschreibt, kann sie sich für sich selbst gut vorstellen. Sobald der komplizierte Papierkram erledigt sei, wolle sie ihren syrischen Freund heiraten, erzählt sie. Die Jungautorin ist offensichtlich zielstrebiger als ihre Protagonisten: Nebst der Heirat sind ein Hund und eine neue Wohnung in Berlin geplant. Und natürlich ein neuer Roman oder noch lieber ein Theaterstück. Vorerst will sie nun aber die Fische im Gartenteich des Lenzburger Atelierhauses zählen, wie sie augenzwinkernd meint – und kurz innehalten.
Lesung
Do, 20.11., 19.00
Literaturhaus Basel
5 Fragen an Olga Grjasnowa
«Den Begriff ‹Heimat› mag ich nicht»
kulturtipp: In Ihrem Roman berichten Sie aus der Berliner Szene, den Drogen- und Grenzerfahrungen Ihrer Protagonisten, von orientierungs- und wurzellosen Kosmopoliten. Schöpfen Sie aus eigener Erfahrung?
Olga Grjasnowa: Mein eigenes Leben ist viel spiessiger als das meiner Romanhelden. Das ist alles recherchiert. Wenn ich die Wahl hätte zwischen Spaghetti und Koks – ich würde die Pasta wählen, immer. (lacht) Das Schreiben ist für mich eine Auseinandersetzung mit Fragestellungen, nicht mit mir selbst. Ich glaube, wenn ich über mich selbst schreiben würde, wäre ich nicht kaltblütig genug.
Wie hat Ihre Heimat Aserbaidschan Ihr Schreiben geprägt?
Den Begriff «Heimat» mag ich nicht – er beinhaltet immer den Ausschluss anderer, eine Verteidigung gegenüber Eindringlingen. In meinen zwei ersten Romanen wollte ich mich mit der Geschichte und der Gegenwart des Landes auseinandersetzen, in dem ich als Kind gelebt habe. Zur Recherche für den neuen Roman habe ich diese Reise meiner Figuren nach Aserbaidschan, Georgien und Armenien unternommen. Nun werde ich aber bestimmt keinen Roman mehr über den Kaukasus schreiben – hoffe ich zumindest!
Wie kommen Ihre Bücher, die sich kritisch mit der Post-Sowjetunion beschäftigten, in Aserbaidschan an?
Die Übersetzung ins Aserbaidschanische steht nicht unter dem besten Stern. Allein schon, was die Rechte anbelangt: Die Übersetzung war schon fast fertig, als der Verlag und ich davon erfuhren ... Zudem ist die aserbaidschanische Übersetzerin nicht sonderlich begeistert von meinem Roman, wie ich gehört habe. Ich bin nun sehr gespannt, ob es zensierte Stellen gibt.
Themen wie Homosexualität oder Eurozentrismus waren in Ihren bisherigen Werken wichtig.
Meine Figuren sind aus Prinzip homosexuell. Ich will mit der Selbstverständlichkeit brechen, dass Romanhelden heterosexuell sind. In meinen Texten geht es immer um die Ausgrenzung oder Gewalt gegenüber Minderheiten. Zurzeit beschäftigt mich die Asylfrage: Ich empfinde es als grosse Selbstermächtigung, wenn bestimmt wird, wer wo leben darf. In Deutschland gibt es diese pompösen Holocaust-Gedenkveranstaltungen – aber bei der Aufnahme von syrischen Flüchtlingen wird gezögert.
Ein weiteres durchgehendes Motiv in Ihrem Roman ist das Ballett und die Körperlichkeit. Die Tänzerin Leyla hat einen extrem rigiden Umgang mit ihrem Körper.
Für Leyla war Liebe immer mit Leistung verbunden. Ihr Körper macht aber bereits mit Mitte 20 nicht mehr mit. Diese Körperbeherrschung des Balletts hat mich schon immer fasziniert. Ich glaube, das Ballett ist etwas zutiefst Sowjetisches. Die Primaballerinen waren die Popstars der Sowjetunion, der einzige Funken Glamour, den es damals gab. Am Fernsehen wurden Primaballerinen und Kosmonauten gezeigt – eine grössere Auswahl gab es nicht für Träumer.
Olga Grjasnowa
«Die juristische Unschärfe einer Ehe»
272 Seiten
(Hanser 2014).