H.G. Wells kämpfte für die Frauen. Als junger Mann war er zu Beginn des 20. Jahrhunderts überzeugt, dass die Befreiung der Frau aus den viktorianischen Zwängen nur über die freie Liebe möglich sei. Wells gefiel seine These dermassen gut, dass er die Frauen am liebsten selbst befreite – mit einer Affäre nach der andern. Das schreibt zumindest Autor David Lodge in seiner Biografie «Ein ganzer Mann» über den Schriftsteller H.G. Wells (1866–1946). In der englischen Originalfassung lautet der Titel «A Man Of Parts», ein unterschwelliger Hinweis auf die «Intimate Parts» von Wells.
Der Arbeitsame
H.G. wer? Der Schriftsteller H.G. Wells ist im deutschsprachigen Raum heute vergessen. Aber er war in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine Grösse unter den europäischen Intellektuellen. Wells veröffentlichte um die 60 Romane und Erzählungen sowie zahlreiche Sachbücher. Weltweite Beachtung fand er mit seinem Roman «Der Krieg der Welten» über die Invasion von Marsmenschen, die sein US-amerikanischer Fast-Namensvetter Orson Welles in einer Hörspielfassung ausstrahlte.
Zwar sind die grünen Männchen noch nicht auf der Erde gelandet. Doch mit andern Vorhersagen lag H.G. Wells erstaunlich richtig: Rund 40 Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg sagt er in «Der Luftkrieg» die flächendeckende Zerstörung von Städten voraus. Er prophezeite zur gleichen Zeit auch «einen Atomkrieg im Jahr 1958«, als noch niemand von Nuklearwaffen sprach.
H.G. Wells war als Visionär weltweit anerkannt: Der sowjetische Diktator Josef Stalin und
der US-amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt empfingen ihn zu Gesprächen. Er durfte auch den kommunistischen Schriftsteller Maxim Gorki in den 30ern in der Sowjetunion besuchen. Die Reise nutzte der Abenteurer, um das Bett mit Gorkis Assistentin Moura Budberg zu teilen. Sie besuchte Wells bis in die letzten Tage seines Lebens immer wieder und stand wahrscheinlich als Agentin in sowjetischen Diensten.
«Arbeit, ein ständiger Strom des Schreibens mit gelegentlichen Erholungspausen in Form von Sex oder Spielen war notwendig für ihn, um nicht von nihilistischer Verzweiflung überwältigt zu werden.» Mit diesen Worten schildert David Lodge den Schaffensdrang von Wells. Trotz pessimistischer Weltsicht verstand sich Wells als Sozialist. Und er kämpfte für den Völkerbund. Daneben weisen Wells Schriften auch dunkle Stellen auf. Er setzte sich für die Euthanasie ein, und er liess es zu antisemitischen Zweideutigkeiten kommen.
H.G. Wells erlebte in der Kindheit materielle Not. Zudem litt er unter einer fragilen Gesundheit, an körperliche Arbeit war nicht zu denken. Also schrieb er mit viel Eifer und noch mehr Erfolg. Und wurde ein reicher Mann.
Aber nicht Wells’ Arbeit steht im Mittelpunkt dieser Biografie, sondern sein Liebesleben. In erster Ehe war er jung mit einer Kusine verheiratet, mit der er nicht zurecht kam. Erst seine zweite Frau Jane liebte ihn mit schier grenzenloser Aufopferung. Sie unterstützte ihn als Sekretärin beruflich und stand ihm bei all seinen Liebesabenteuern zur Seite, wenn nicht mit Tat, so doch mit Rat. Auf diesen war Wells dringend angewiesen, weil er sich gerne mit viel jüngeren Frauen einliess, was zu öffentlichen Skandalen führte.
Geheime Liebschaft
Am wichtigsten erwies sich für Wells die jahrelange Liaison mit der Schriftstellerin Rebecca West, mit der er einen Sohn hatte. Diese Beziehung ist zwar mit zahlreichen Briefen und Aufzeichnungen dokumentiert, sie macht jedoch deutlich, dass Lodge nur eine fiktive und keine detailtreue Biografie über Wells schreiben konnte. Die geschilderten Intimitäten einer zeitweise geheimen Liebschaft lassen sich Jahrzehnte später zwangsläufig nur erfinden. Lodge greift dafür zu einem literarischen Trick: Er lässt Wells in Selbstgesprächen reden. Damit gewährt er ihm auch die Chance, sich vor der Nachwelt zu rechtfertigen. Man vergibt dem Mann gerne.
[Buch]
David Lodge
«Ein ganzer Mann»
650 Seiten
(Haffmans & Tolkemitt 2012).
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