kulturtipp: Susanne Wille, Sie waren eine erfolgreiche Newsjournalistin. Was hat Sie bewogen, zur Kultur zu wechseln?
Susanne Wille: In den vergangenen Jahren habe ich im Hintergrund bei Transformationsprojekten mitgearbeitet. Dabei merkte ich: Das interessiert mich, und ich möchte in diesen für die Medienbranche schwierigen Zeiten Verantwortung übernehmen. Zudem war ich als Politjournalistin stets ein kulturin-
teressierter Mensch und bleibe als Kulturchefin eine politisch denkende Frau.
Reihum wird der Kulturjournalismus abgebaut. Warum sinkt sein Stellenwert?
Kulturberichterstattung ist in der Medienlandschaft keine Selbstverständlichkeit mehr in Zeiten, da Werbeeinnahmen einbrechen. Deshalb bin ich dankbar, haben wir bei SRF einen Leistungsauftrag. Es ist und bleibt unsere Aufgabe, Kultur zu fördern und zu vermitteln. Aber auch wir müssen darauf reagieren, dass Medien anders konsumiert werden, und sind darum in einem Transformationsprozess, um auch in Zukunft für alle relevant zu bleiben.
Diesen Prozess hat SRF-Direktorin Nathalie Wappler kürzlich als Strategie «SRF 2024» vorgestellt (siehe Box). Deren Devise lautet «digital first». Was bedeutet das für die Abteilung Kultur?
Ich fasse es gern mit dem Be-griff Beidhändigkeit zusammen. Dem aktuellen Angebot, der Qualität Sorge zu tragen, gleichzeitig mutig Neues zu wagen. Wir richten unser Angebot stärker auf digitale Nutzung aus, damit wir in Zukunft in der Gesellschaft mit Kulturthemen verankert sind und auch ein neues kulturinteressiertes Publikum erreichen.
Geht dabei nicht jenes Publikum vergessen, das nicht digital unterwegs ist?
Hier geht es um die Balance. Wir wollen das loyale kulturinteressierte Publikum weiterhin mit einem starken Angebot im Radio und TV erfreuen, aber über digitale Kanäle auch weitere Menschen ansprechen, die heute unser Angebot zu wenig oder gar nicht nutzen.
Jene Menschen unter 45, die Nathalie Wappler als Zielpublikum definiert hat?
Ja. Wir müssen stärker für dieses Publikum da sein. Wichtig ist mir zu sagen, dass die Gleichung «älteres Publikum gleich linear, jüngeres Publikum gleich digital» in der Praxis zu kurz greift. Unsere Analysen haben gezeigt, dass 40 Prozent der über 60-Jährigen einmal täglich ein digitales SRF-Angebot nutzen.
Den Rest aber analog konsumieren. Können Sie garantieren, dass weiterhin analog und linear gesendet wird?
Ich gebe gerne ein klares Bekenntnis ab für ein lineares und starkes Kulturradio. Auch dieses wird sich weiterentwickeln. Ja, wir investieren mehr Mittel ins Digitale und passen das lineare Angebot an. Aber ab 2021 bleiben immer noch 80 Prozent unseres Budgets im traditionellen Radio und Fernsehen.
«SRF 2024» sieht aber explizit «Verzichte im linearen Angebot» vor.
Wir haben das ganze Angebot überprüft und geschaut, wo wir Lücken haben und wo es ähnliche Programme für ein ähnliches Publikum gibt. Und so entwickeln wir neue digitale Angebote. Das geht nur mit Verzicht und Anpassungen. Aber wir haben jede Anpassung mit einem weiterführenden Gedanken verknüpft. Beispiel: Wir verzichten auf «Einstein»-Spezialsendungen im TV, bauen aber eine digitale Wissensplattform auf, um in einer komplexen Welt Orientierungshilfe zu bieten. Viele der Angebote, die wir fürs Digitale realisieren, können auch im linearen Programm eingesetzt werden.
Offenbar soll bei Jazz- und Klassikproduktionen fürs Radio gespart werden.
Das stimmt. Wir können uns den bisherigen Umfang dieser Produktionen nicht mehr leisten. Aber die Anzahl der Klassik-Konzertsendeplätze im Radio bleibt bestehen dank stärkerer Zusammenarbeit mit RSI und RTS. Musikproduktionen sollen zudem ein Förderungsauftrag werden, indem wir gezielt auf junge Talente fokussieren.
Und was wird gestrichen?
Wir sind mitten in der Budgetplanung und mit der SRG-Finanzplanung verbunden. Einiges haben wir bereits kom-
muniziert: Es gibt Kürzungen in der Musikproduktion und im Programm bei Religion und Literatur im Radio.
Und Hörspiele werden zu Podcasts …
Ja, hier werden Investitionen umgelagert. Aber es wird auch weiterhin Hörspiele im linearen Programm geben. Und Hörspiele, die als Podcasts produziert werden, sind später im Radio zu hören. Zum Beispiel die Beethoven-Sitcom «Roll over Beethoven».
Was geschieht mit Nischen-Sendungen wie der «Diskothek»?
Eine wichtige Frage. Ich möchte die Kultur stärken. Das bedeutet auch, dass wir dort, wo es möglich ist, Inhalte anbieten, die ganz bestimmte Interessen abdecken. Allerdings werden wir noch stärker überlegen, womit und auf welchen Kanälen wir Kulturinteressierte besser erreichen. Ich möchte betonen, dass Digitalisierung nicht bedeutet, dass die Programme seichter werden. Auch für digitale Formate wollen und müssen wir qualitativ guten Journalismus bieten.
Bleibt die «Diskothek» also im Programm?
Es muss weiterhin Radiosendungen wie die «Diskothek» geben. Ich selbst höre die «Diskothek» gerne, weil ich stets viel dazulerne.
Die Digitalisierung geschieht rasant. Als Radio- und TV-Konsument fragt man sich, ab wann SRF ganz auf digitale Verbreitung setzt.
Radio und Fernsehen werden weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Im Zentrum steht für uns die schöne Aufgabe, guten Journalismus zu machen. Wir wollen aber weniger auf bestimmte Vektoren und Sendungen fokussieren, sondern stärker die Frage stellen: Wo erreichen wir welches Publikum, und wie erzählen wir die Geschichten? Übers klassische Radio/TV oder über verschiedene Onlineplattformen oder in einem Mix aus linearen und digitalen Kanälen.
Im Herbst nun lanciert SRF
mit «Play Suisse» eine eigene Streaming-Plattform. Glau-ben Sie wirklich, damit Netflix & Co. trotzen zu können?
Die Konkurrenz ist gross. Darum überlegten wir uns, was uns unverwechselbar macht. Mit «Play Suisse» bietet die SRG eine Schwei-
zer Streamingplattform, die auf Schweizer Produktionen aus allen Landesteilen setzt.
Der Schweizer Film bekommt also mehr Geld?
Ja. Wir investieren mehr in eigene Serien, wollen die Anzahl Serien längerfristig verdoppeln, verzichten bei SRF aber auf eigenproduzierte 90-minütige TV-Filme und reduzieren den Einkauf von internationalen Spielfilmen. Es wird weiterhin grosse Serien geben wie «Frieden» oder «Wilder». Aber wir wollen auch Serien für ein jüngeres Publikum auf Instagram entwickeln oder Serien, die wir zuerst auf den digitalen Plattformen ausspielen.
Die Leidtragenden sind Schweizer Filmschaffende, die auf SRG-Unterstützung angewiesen wären.
Im Gegenteil. Wir haben im Januar den «Pacte de l’audiovisuel» mit den Filmschaffenden erneuert und werden uns weiterhin für den Schweizer Film einsetzen. Mit der Neuausrichtung werden wir eher mehr Aufträge an Schweizer Produktionsfirmen vergeben.
Für 2020 hat die SRG Einsparungen von 16 Millionen Franken angekündigt. Hat sich dies aufgrund von Corona verschärft?
Die finanzielle Situation bleibt angespannt und erfordert Massnahmen, die momentan auf nationaler Ebene ausgearbeitet und im Oktober bekannt gegeben werden.
SRF 2024
Das im November 2019 lancierte Transformationsprojekt arbeitet ein neues Betriebsmodell für alle SRF-Abteilungen aus unter der Devise «digital first». SRF-Direktorin Nathalie Wappler: «Wir wollen unsere Nutzerinnen und Nutzer besser erreichen – insbesondere die jüngeren.» Erste Anpassungen in Betrieb, Abläufen und Programmen von SRF treten im April 2021 in Kraft.
Susanne Wille
Die gebürtige Aargauerin ist 45 Jahre alt, hat Geschichte, Anglistik und Journalistik studiert. 1999 stieg sie als Videojournalistin beim Regionalsender Tele M1 ein. 2001 wechselte sie zu SRF und moderierte «10vor10», arbeitete ab 2011 in der Bundeshausredaktion und kehrte 2017 zurück zu «10vor10». Sie war beteiligt am Aufbau des Newsrooms sowie im Projekt «SRF 2024». Seit 1. Juni ist sie Kulturchefin.