«Seid mal nicht so optimistisch!», wollte man den dauereuphorisierten Tonhalle-Orchester-Verantwortlichen im Herbst 2017 mahnend zurufen. Sie mussten von der altehrwürdigen Tonhalle im abendstillen, leblosen Quartier hinter dem Paradeplatz umziehen in den partytrubelhaften Kreis 5, zum Bahnhof Hardbrücke. Doch im Nu war man hingerissen vom Zauber der Tonhalle Maag und ihrer Umgebung.
Die Unmittelbarkeit der Musik erleben
Neben der Halle ragt der Prime Tower 126 Meter in den Himmel, zeigt, wohin das 21. Jahrhundert sich streckt. Keine 300 Meter weiter wird im «Rosso» in einer alten Lagerhalle die coolste und beste Pizza von Zürich serviert. Auch die Maag-Halle erzählt in ihrem Graugelb vom frühen 20. Jahrhundert. Wer einmal drin ist, wird staunen über diese Wärme – und die kommt nicht nur von den Heizstrahlern im Foyer und den feinen Käseküchlein am Buffet. Hier ist man sich, den anderen Besuchern und der Musik viel näher als in einem perfekten Kulturtempel wie dem KKL. Da der Saal nicht allzu gross ist, ist die Unmittelbarkeit der Musik fast auf jedem der 1224 bequemen Sitze zu erleben. Die Akustik ist grossartig.
Wem das nun etwas gar übertrieben tönt, der glaube dem weltberühmten Dirigenten Franz Welser-Möst: Er jubelte nach den ersten Proben über die Tonhalle Maag: «Ich finde es grossartig, was da hingestellt wurde, und ich hoffe, dass man den Saal nach drei Jahren nicht plattwalzen lässt: Das ist eine Jahrhundertchance für Zürich, die kommt nicht wieder. Die Maag-Halle ist ein Gottesgeschenk.» Viele Orchester wären glücklich, einen solchen Saal zu haben – nicht nur interimistisch. Welser-Möst ist kein Fantast – Künstler aber ist er allemal. So sagte der Stardirigent denn, dass die Stadt nun eine Vision brauche. Und er fügt mit Nachdruck an: «Man muss ein bisschen grösser denken.»
Orchester-Präsident Martin Vollenwyder ist hinter den Kulissen längst am Lobbyieren. Die Liegenschaft gehört der Swiss Prime Site (sps), die Stadt bezahlt die Miete. Für den Standort des Konzertsaals und der Music Hall besteht ein rechtsgültiger Gestaltungsplan, dort soll ein Hochhaus entstehen. Doch sps-Verwaltungsratspräsident Hanspeter Wehrli hat offene Ohren für die Musik, kann sich einen Verbleib des Konzertsaales gut vorstellen.
Doch ohne Investor, Mäzen oder grossen Sponsor wird es nicht gehen, da die Politik zurückhaltend ist. Noch jedenfalls. Auch die Begeisterung des Zürcher Publikums über die neue Spielstätte ist schwankend. Nach den Eröffnungskonzerten sah es lange trüb aus im Saal, die Reihen waren gelichtet, es brauchte schon Altmeister Bernard Haitink und Patricia Kopatchinskaja mit Wirbelwind Teodor Currentzis, bis es endlich hiess: «Ausverkauft!» Als dann auch noch das Verdi-Requiem mit Dirigent John Eliot Gardiner und das Gastkonzert mit dem zukünftigen Tonhalle-Chefdirigenten Paavo Järvi ausgebucht waren, wurde man euphorisch.
Vergessen, dass wegen des Umzugs 20 Prozent der Abonnenten verloren gegangen waren? 1000 Karten müssten pro Konzert verkauft werden, also dürften nur 200 Plätze leer bleiben. Bei einem Blick ins Programm würde man denken, dies sei machbar, denn an Qualität hatte man keineswegs abgespeckt: Man bietet eine hochattraktive Saison, macht keine Zugeständnisse an die neue Halle oder ans Umfeld. Hätte man das tun müssen? Ilona Schmiel, Intendantin des Tonhalle-Orchesters, antwortet: «Ich kann meine Inhalte nicht dauernd verändern und glauben, dass ich mich dadurch zu meinem Publikum hinbewege. Die eigene Markenbildung muss so stark sein, dass sie sich in einem neuen Umfeld durchsetzen kann. Auch wenn ich in ein hippes Viertel komme, kann ich nicht alles umkrempeln.»
In der Begeisterung liegt Zweckoptimismus
Doch wo Abonnenten fehlen, muss mehr über die Tageskasse laufen – und da sind die Zürcher zurückhaltend. Als der grosse Dirigent Semyon Bychkov Ende Januar mit dem Orchester debütierte, war der Saal dreimal halb leer. Das drückt auf die Bilanz. In der Begeisterung, die man an der ersten Bilanz-Pressekonferenz verströmt hatte, lag auch Zweckoptimismus. Bis dahin lag man jedenfalls nicht im angestrebten Schnitt. Ob man es Ende Saison sein wird?
Die neue Philharmonie in Paris, obwohl ein viel grösseres Projekt, hatte ein ähnliches Problem: Wie bringe ich die Menschen von ihrer lieb gewonnenen, zentralen Salle Pleyel plötzlich an den Rand der Stadt in den Norden von Paris? Ein Zeichen ist überdeutlich: Die teuerste Karte für die zweifellos gebotene Weltklasse kostet 55 Euro. Die Tonhalle-Karten dagegen sind teuer wie eh und je (bis 150 Franken), die billigsten für ein Sinfoniekonzert nicht unter 40 Franken zu haben. Aber eben: Orchesterglanz gepaart mit Industrie-Chic kostet. Da die Maag-Halle 300 Plätze weniger hat als die Tonhalle, nimmt man auch bei Vollauslastung weniger Geld ein. Zudem kostete der Umbau der Halle 10 Millionen Franken. Davon hat die Stadt Zürich nur 1,65 Millionen übernommen.
Ein Rat? Nicht abwarten, sondern hingehen und mitreden darüber, ob Zürich ein famoses Teilzeit-Kulturgeschenk annehmen und zu etwas Bleibendem ausbauen soll.
Konzerte Tonhalle Maag
Krzysztof Urbanski, Tonhalle-Orchester und Sol Gabetta Sa, 5.5., 18.30/So, 6.5., 17.00
Lionel Bringuier/Leif Ove Andsnes Mi, 16.5., 19.30
TOZintermezzo mit Slam Poetin Lara Stoll Do, 17.5., 18.30