Kneipe Strauss, Ecke Langstrasse: Im Schummerlicht sitzt ein Typ zusammengesunken an der Bar vor seinem Bier, aus den Boxen erklingt Roy Orbisons sehnsüchtiges «Oh, Pretty Woman». Ein Ort, wie ihn Tom Zürcher mag. «In den 80ern habe ich hier im Quartier an der Brauerstrasse gewohnt», erzählt er beim Treffen ein paar Strassen weiter. Die Brauerstrasse ist auch ein Schauplatz seines Romans «Mobbing Dick»: Sein Protagonist, ein Muttersöhnchen, findet in dieser dunklen Ecke seine erste eigene Wohnung. Er hat einen Job in der Schweizerischen Bankanstalt ergattert – und pendelt nun zwischen dem Kreis 5 und dem Banken-Mekka am Paradeplatz. Die menschlichen Abgründe eröffnen sich an beiden Orten.
Der innere Film bestimmt den Text
So harmlos amüsant der Roman beginnt, so schnell nimmt er an Fahrt auf, lässt Wirklichkeit und Wahn verschwimmen. «Das Buch hat einen doppelten Boden. Du fängst an zu lesen, in Dur, und plötzlich knallst du auf die Moll-Ebene», sagt Zürcher. Mit seinen Romanen will er die Leser in einen Sog ziehen, indem er ihr Unterbewusstsein anspricht, ihre Gefühle steuert. Tom Zürcher arbeitet akribisch: Bis zu vier neue Fassungen schreibt er jeweils von seinen Texten, tüftelt, schleift, streicht, bis er sie als druckreif empfindet. Drei Romane hat er veröffentlicht – und fünf liegen fixfertig in der Schublade. «Mein Perfektionismus steht mir im Weg», sagt der 53-Jährige, der als Werbetexter arbeitet, wenn das Geld knapp wird. Bisher gelten seine Bücher als Geheimtipp, überraschend denn auch seine Nomination für den Deutschen Buchpreis. «Die Nachwirkungen waren allerdings nicht gross, und bis zur Shortlist hat es nicht gereicht», meint er mit einem Achselzucken, aus dem die Enttäuschung spricht. Beim Treffen in Hamburg, wo die Longlist-Anwärter versammelt waren, hat er sich als Aussenseiter gefühlt. «Ich gehöre da nicht dazu. Und ich nenne mich auch nicht Schriftsteller, sondern Texter.» Seine Texte will er so gestalten wie ein schön gewebtes Textil, bei dem man die Struktur nicht erkennt. Wenn er selbst liest, ist er meist desillusioniert: «Bei vielen Büchern sehe ich das Muster dahinter, die Geschichten sind nicht raffiniert erzählt.»
Zürcher kann aus dem Stegreif eine Geschichte erfinden. Wie sie endet, weiss er oft selbst nicht: «Ich schreibe einfach mit, so wie der innere Film abläuft.» Seit der Kindheit hat er eine «Personenkiste» mit Ideen, aus der er sich bedienen kann. Seine Figur «Mobbing Dick» ist vor Jahren entstanden und speist sich aus eigenen Erfahrungen, als er in den 80ern als Devisenhändler gearbeitet hatte. Denn nebst dem Psychogramm eines Muttersöhnchens auf Abwegen ist der Roman auch eine Satire auf die Bankenwelt und die groteske Bürokratie.
Buch
Tom Zürcher
Mobbing Dick
288 Seiten
(Salis Verlag 2019)
Tom Zürchers Kulturtipps
Lokal
Restaurant Strauss, Zürich
«Die letzte Kneipe, die es noch gibt: Mit ‹Töggelikasten›, Jukebox und ‹Hürlimann› in der grossen Flasche. Ab und zu stellen sie sogar eine Band mit ihrem Verstärker rein. Das ‹Strauss» ist ein Stück Kulturgut.»
Buch
Dieter Zwicky: Slugo (Edition pudelundpinscher 2013)
«Seine ‹unleserlichen› Texte lese ich sehr gerne. Zwicky muss man an einer Lesung hören, dann hat man ihn ewig im Ohr.»
Trailer
Joker
Film ab Do, 10.10., im Kino
«Der erste ‹Joker›-Trailer ist echt gut gemacht. Allein durch die tragende Musik wird dargestellt, wie ein Jammerlappen die Macht bekommt. Manchmal ist ein Trailer ja viel besser als der Film selbst. Aber ‹Joker› hat nun auch den ‹Goldenen Löwen› in Venedig gewonnen.»