Tom McCarthy - Absurdes aus dem letzten Jahrhundert
Der Entwicklungsroman «K» des englischen Schriftstellers Tom McCarthy vermittelt dem Leser eine packende Rückschau auf das frühe 20. Jahrhundert – wunderbar skurril.
Inhalt
Kulturtipp 06/2012
Rolf Hürzeler
Die junge Sophie ist tot, mausetot. Doch ihr Vater glaubt an den Segen moderner Kommunikationsmittel und veranlasst, dass ihr Leichnam eine Morsetaste mit ins Grab bekommt – inklusive Übertragungsantenne auf der Krypta. Denn falls Sophie ins Leben zurückfindet, könnte sie sich mit einem kurzen Hilferuf zurückmorsen.
Das ist der skurrile Humor des 43-jährigen englischen Erfolgsautors Tom McCarthy. Er hat mit dem Entwicklungsroman «K» ein gr...
Die junge Sophie ist tot, mausetot. Doch ihr Vater glaubt an den Segen moderner Kommunikationsmittel und veranlasst, dass ihr Leichnam eine Morsetaste mit ins Grab bekommt – inklusive Übertragungsantenne auf der Krypta. Denn falls Sophie ins Leben zurückfindet, könnte sie sich mit einem kurzen Hilferuf zurückmorsen.
Das ist der skurrile Humor des 43-jährigen englischen Erfolgsautors Tom McCarthy. Er hat mit dem Entwicklungsroman «K» ein grossartiges Buch geschrieben. Darin erzählt er die Geschichte des Serge Karrefax von 1898 bis in die 1920er-Jahre. Gleichzeitig vermittelt McCarthy einen verschrobenen zeitgeschichtlichen Blick auf jene Epoche der Avantgarde.
Fantastische Weltsicht
Trauriger Hintergrund der schrägen Morse-Episode aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg: Die junge Sophie nahm sich das Leben mit Zyanid und wäre selbst dann nicht zurückgekommen, wenn sie es gekonnt hätte. Denn die Feinfühlige zerbrach am Elend der damaligen Welt.
Absurdes, Paradoxes, Hirnrissiges: Der Roman «K» entwickelt in vier Kapiteln eine fantastische Weltsicht. Im ersten Teil wächst Serge mit seiner Familie in Südengland auf. Sein Vater führt ein Erziehungsheim für taube Kinder, denen er paradoxerweise die Zeichensprache rigoros verbietet. Danach begegnet der Leser diesem Serge im Ersten Weltkrieg, wo er als Funker auf einer fliegenden Kiste zum Einsatz kommt. Im dritten Teil lümmelt der Held als Kokainsüchtiger durch die Londoner Unterwelt der Zwischenkriegszeit, im vierten ist er als Spion in Ägypten, wo er ein Kommunikationsnetz aufbauen muss.
Kommunikation und Missverstehen sind roter Faden in Tom McCarthys Buch: Etwa der morseverrückte Vater mit seinen tauben Schülern oder Serge als Funker in den Kriegswirren. Typisch auch, wenn der Romanheld die angeblich übersinnliche Kommunikation mit Verstorbenen während einer Séance auf einer Londoner Bühne als Scharlatanerie entlarvt.
Viele Anspielungen
Der Buchtitel «K» steht vordergründig für den Romanhelden Serge Karrefax, aber der Autor fasst im Buchstaben sein ganzes Werk zusammen – von Kommunikation über Kokain bis Katakombe in den Pyramiden.
Autor Tom McCarthy ist ein Liebling der englischen Buchkritik; «K» hat überschwängliches Lob gefunden. So schreibt der «Daily Telegraph» «vom allerbesten Buch, das dieses Jahr herausgekommen ist». Das Blatt vergleicht McCarthy mit literarischen Grössen wie Kafka, Beckett und Pynchon wegen der Vielschichtigkeit der Lektüre. Tatsächlich ist «K» für den Leser ein aufwendiges Buch. Immer wieder ist zu spüren, wie der Autor mit seinem Publikum spielt: So erleidet der Protagonist nach einem Liebesspiel in einer Pyramide eine Blutvergiftung, eine Anspielung auf dem angeblich mysteriösen Tod des Orientalisten Lord Carnarvon, der ebenfalls wegen einer Blutvergiftung das Zeitliche segnete. Oder die Selbstmörderin Sophie ist auf der Suche nach einem gefährlichen «Balkan Käfer», ein Hinweis auf den drohenden Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit allem Elend.
Für Tom McCarthy sind Anspielungen auf den Tod allerdings mehr Amüsement als Grauen. Er ist Mitbegründer der absurden «Necronautical Society», für die «Todesprojekte so wichtig sind wie Sex für die Surrealisten». Die Todesbegeisterten deklarierten ihr Manifest in einer Anzeige auf der ersten Seite der «Times» mit einem der typischen Sprüche von McCarthy: «Wir wollen den Tod kolonialisieren.»
Die NZZ lobte letztes Jahr Tom McCarthys ersten Roman «8½ Millionen» enthusiastisch mit den Worten: «Ein Erlebnis, eine Bewusstseinserhellung, eine Weltsicht.»
Morseapparat
Dieses Kommunikationsmittel war zu Beginn des 20. Jahrhunderts Symbol für den technischen Fortschritt. Tom McCarthy führt das Wunderding ad absurdum. Es soll sogar eine Verbindung zum Jenseits herstellen.
Britische Militärflieger
Die Lufttruppen galten im Ersten Weltkrieg als Elite. Tom McCarthy lässt
seinen Helden Serge als Funker in einer Klapper-kiste über die Front fliegen: Der Krieg wird aus der Luftperspektive ein Kinderspiel – ohne jeglichen Sinn.
Pyramiden
Ägypten war in der Zwischenkriegszeit ein strategischer Schnittpunkt der Kolonialmächte. Der Protagonist Serge soll dort für die Briten ein Kommunikationssystem aufbauen. Aber er verirrt sich im wilden Liebesspiel in den Katakomben einer Pyramide.
[Buch]
Tom McCarthy
«K»
480 Seiten
(DVA 2012).
[/Buch]