Wintereinbruch irgendwo an einer Tankstelle in Alaska oder Norwegen: Die junge Joana lässt den allerletzten Bus, der in die Stadt fährt, vorbeiziehen. Sie will in der weiten, unberührten Eis-Landschaft bleiben, bei den Alten. Hier verspricht sie sich Ruhe von der hektischen Grossstadt, hier soll ihre zerrüttete Seele ins Lot kommen. Doch der alte Lukas und der Kiosk-Besitzer Markus sind alles andere als begeistert. Sie wollen unter sich bleiben, dem dunklen Winter vor dem Fernseher trotzen. Nur die alte Josephine hofft auf ein bisschen Action in der Ödnis.
«Du bist zu jung für so eine Nacht. Die Nacht ist zu lang», warnt Lukas die starrköpfige Joana und ergänzt: «Habe ich dir von Andres erzählt? Dem Förster? Die Nacht hier ist tödlich. Erst beginnt man, mit den Wänden zu sprechen, und plötzlich läuft man schiessend durch den Ort.» Doch so eindringlich er spricht, Joana lässt sich nicht überzeugen. Und als wenig später ein junger Fremder aus dem Nichts auftaucht, der kein Wort spricht, nimmt das Schicksal seinen Lauf.
Viel Rätselhaftes
Das ist die Ausgangslage im Theaterstück «Findlinge» des Glarner Autors Daniel Mezger. Vieles bleibt in seinem Text rätselhaft. Bis zum Schluss bleibt etwa offen, wer der Unbekannte ist, der die ganze Gemeinschaft durch seine blosse Anwesenheit aus dem Gleichgewicht bringt. Genau diese Fragezeichen haben die fünf Schauspieler am Stück gereizt, wie sie in einer Probenpause in Bern erzählen. «In den Vorproben haben wir uns für die Figuren eine Vergangenheit zurechtgelegt, um daraus glaubwürdig zu agieren», sagt der Schauspieler Jaap Achterberg. Dies gilt besonders für den stummen Fremden: «Er könnte etwas mit Öl, mit Naturschutz zu tun haben – er könnte aber auch ein Flüchtling oder ein Terrorist sein», sagt der Schauspieler Lukas Kubik zu seiner Figur. Und dem Dokumentarfilmer Paul Riniker, der nach Jahrzehnten wieder mit sichtlichem Spass selbst auf der Bühne steht, hilft die Erfahrung als Regisseur, sich in seine Figur hineinzuversetzen.
Bei den Proben geht es zur Sache: Bald ringen die beiden Jungen miteinander im animalischen Liebesspiel. Die emotionalen Abhängigkeiten, vor denen Joana aus der Stadt geflüchtet ist, all die Sehnsüchte, holen sie wieder ein. Der Fremde hingegen bleibt eher unbeteiligt. Und er lässt sich auch nicht auf die Machtspiele der Dorfbewohner ein. Das führt zu einem Showdown, der den Unheil verkündenden Anfangssatz im Stück bestätigt: «So fangen Horrorfilme an.»
Regisseurin Lena Lessing versteht das Stück aber trotz des düsteren Hintergrunds auch als Komödie. Der Text spiele etwa mit der Sehnsucht des Städters nach einer heilen Welt. «Und es geht um das Älterwerden, das eine gewisse Tragikomik in sich birgt. Diese zeigt sich besonders in der Figur des Paradiesvogels Josephine, die sich an keine Tabus hält und augenzwinkernd mit ihrer Sexualität spielt.» In ihrer Inszenierung hervorheben will sie zudem den Umgang mit dem Fremden. «Der junge Mann dient den Dorfbewohnern als Vorlage für ihre Sehnsüchte, sie verteufeln ihn, oder sie stülpen ihre Ängste auf ihn über. Mit dem Resultat, dass sie ihn ausgrenzen und eine Gewaltspirale in Gang setzen.»
Enge und Weite
«Die Geschichte ist eine Parabel aufs Menschsein, aufs Älterwerden, die Einsamkeit und auf die Suche nach dem Glück», resümiert Doro Müggler, Schauspielerin und Mitbegründerin der Gruppe Weltalm. Bühnenbildnerin Renate Wünsch setzt das Stück in kalten Blau-Weiss-Tönen um. Wichtigstes Requisit ist eine Tiefkühltruhe, in der eine Videokamera die grosse Weite nach draussen projiziert. «Das weisse Licht kontrastiert mit der Finsternis, die Enge drinnen mit der Weite draussen, die Kühle des Orts mit der Leidenschaft der Figuren», sagt Lessing. In diese Atmosphäre des ewigen Eises kann sich das Publikum im Tojo Theater Bern und danach im Kleintheater Luzern sowie im Theater Winterthur versetzen lassen.
Findlinge
Premiere: Mi, 9.12., 20.30 Tojo Theater Bern
Weitere Termine: www.weltalm.ch