Natürlich habe ich Angst, dass das alles nichts bringt, dass das niemandem etwas nützt. Dass es keinen Unterschied macht, ob wir miteinander sprechen oder nicht. Dass es gar nichts nützt, miteinander zu sprechen, privat oder öffentlich, weil die Welt sich weiter dreht und die Menschen der Physik egal sind. Egal, ob Menschen Musik hören, gemeinsam, ob sie zusammen in einem Theater sitzen und sich dem hingeben, was ihnen da vorne vorgemacht wird.
Manchmal habe ich Angst, dass es überhaupt keinen Unterschied macht, ob die Zeitungen gedruckt werden oder nicht, ob Menschen zur Wahl gehen, um kurz das Gefühl zu haben, dass ihre Stimme zählt. Meistens tröste ich mich damit, dass alle Menschen auch Tiere und eigentlich Herdentiere sind. Also eigentlich welche, die nicht gern allein sind. Die Anerkennung in ihrer Gruppe suchen.
Dann stelle ich mir vor, dass es für alle Sinn macht, ein Buch zu lesen und darin Empathie zu entwickeln für andere. Oder einen Spaziergang machen zu können, sogar, wenn es anfängt zu regnen. Dann freue ich mich, mir vorzustellen, dass eine, obwohl sie keinen Regenschirm hat und obwohl die Jacke nicht wasserdicht ist und keine Kapuze hat, ganz in Ruhe weiterläuft, die Hände in den Manteltaschen verstaut, aber nicht eilig und ohne eingezogenen Kopf.
Dann stelle ich mir vor, dass zwei sich im Bus begegnen, weil sie den gleichen Platz wählen, um sich hinzustellen, und sich einigen müssen. Wortlos, wer zur Seite tritt. Und wie das Hin und Her, der spontane Tanz der Fremden dazu führt, dass sie kurz auflachen und sich anlächeln. Dann stelle ich mir vor, wie schön es sein kann, wenn ein Kind im Kinderwagen plötzlich zu weinen aufhört, nur weil irgendwo ein Hund bellt. Ich stelle mir vor, wie zermürbend es sein muss, Menschen aufzuziehen, die später mutlose Leute werden wie alle anderen auch.
Wenn ich mich einsam fühle, dann erinnere ich mich an die Stimmen derjenigen, die ich mag.
Ich sei selber schuld an meiner Einsamkeit, sagt mir eine Freundin. Eine, die glaubt, dass es kein Schicksal gibt, sondern nur das Leben. Ich sei selber schuld, wenn ich das Haus nicht verliesse. Ich sei selbst daran schuld, wenn
ich die Zeitung lesen und die Nachrichten schauen würde.
Sie nimmt es mir übel, dass ich es den anderen übel nehme, dass wir die ganze Zeit nur zuschauen, schauen und einordnen, was wir sehen. Sie nimmt es mir übel, dass ich deshalb traurig bin. Sie nimmt es mir auch übel, dass ich nicht anders kann, als zu Hause zu bleiben, weil mich zu Hause nichts überraschen kann. Nichts wundern kann.
Trotzdem mag sie es, an manchen Abenden vorbeizukommen, mit einer Flasche Rotwein, und dann sitzt sie da, hat ihre Schuhe ausgezogen, trägt Wollstrümpfe von meiner Grossmutter, zieht die Füsse auf die Sitzfläche, hält ihre Knie, und wir sprechen miteinander. Dann reden wir über die Hypothese, dass man Feinde nur lange genug zusammen einsperren müsse, bis sie zu einer Einigung kämen.
Kommen müssten. Dass die Sprache helfe, Empathie zu entwickeln, und Verstandenwerden der Sinn wäre des menschlichen Zusammenlebens. Dass man Perspektivwechsel üben könne und Polarisierung mit der Angst zusammenhänge, das Fremde, das Andere zu fürchten. Dass Kunst Trost erzeugen könne und Kultur ein Menschenrecht sei, auf das keine Zivilisation verzichten könne. Dass alle Privilegierten sich engagieren müssten für die Förderung der Bildung, der Vielfalt.
Sie nennt mich naiv und hat wahrscheinlich recht. Sobald sie gegangen ist, schaue ich doch wieder Nachrichten, das Nachtmagazin, Interviews, Wahlergebnisse, Berichte von der Front, die immer näher rückt, nicht nur im Kopf.
Manchmal, nach den Nachrichten, wünschte ich, ich hätte die Telefonnummer des Despoten oder des Ministerpräsidenten oder auch nur der Aussenministerin, um mit ihnen zu sprechen, einfach nur so, aus Interesse, um zu hören, wie es ihnen eigentlich geht.
Ich weiss nicht, wie eine Aussenministerin sich abends fühlt, wenn sie gerade nicht sprechen muss. Ich weiss nicht, was sie macht, um runterzukommen. Ich stelle mir vor, wie sie sich ein Bad einlaufen lässt, wie sie danach die Nagelhäutchen an den aufgeweichten Fussnägeln entfernt und den alten Nagellack, den sie sich in Rom aufgetragen hatte, in einer kleinen Pause zwischen zwei Sitzungen, an einem Kiosk gekaufter Nagellack, in einer Farbe, die sie nicht mag, mit der sie sich überraschen wollte.
«Petrol-Perlmutt», so etwas. Und der Lack war abgesprungen seit Rom. So stelle ich mir vor, sitzt sie in der Badewanne und reibt mit dem Nagellackentfernerpad die Spuren weg. So blau, wie der Himmel über Rom war. Und danach würde sie neuen Nagellack auftragen. Vielleicht den aus Brüssel. Oder den aus New York. Der aus New York war golden glitzernd. Sie kauft sich immer einen Nagellack an den Orten, an denen sie ist, um Politik zu machen.
Und die Gläschen werden beschriftet mit den Städten, in denen sie sie gekauft hat. Sie hat einen kleinen Schrein dafür. Im Badezimmer hängt kein Schrank, aber dieser Schrein mit einer Glasfront, und darin aufgereiht auf kleinen Treppchen stehen alle diese Städte in verschiedenen Farben, die sie gesammelt hat in den letzten drei Jahren ihrer Amtszeit.
Sobald die Nägel lackiert sind, würde sie sich die Haare abtrocknen und unter einem dicken Handtuchturban verbergen und mit einem Bademantel hinaustreten aus dem Dunst des Badezimmers und sich vielleicht auf ihr Sofa setzen, mit nackten Zehen, damit der Lack nicht zerkratzt.
Sicherlich in einem grossen, geräumigen Wohnzimmer, vielleicht sogar mit Kamin. Und dort könnte sie sitzen, endlich allein, weil die Pressesprecherin heute doch nicht mehr kommt und ihre Freundin endlich wieder einmal ins Theater geht.
Ich stelle mir auch vor, wie ein Präsident, der jetzt seit Neuestem wieder Zuspruch hat und neue Panzer gekauft hat und sie aufstellen lässt, an einer Grenze zu einem Land, das ihm nicht gehört, das niemandem gehört ausser sich selbst, wie er sich auch heimlich die Fussnägel anmalt mit dem Nagellack aus Mailand, Miami, Moskau oder aus Odessa.
Wie er sich immer nur rote Fläschchen kaufen würde, verschiedene rote, alle roten, die er finden kann. Ich stelle mir vor, wie dieser Mann sich die Fussnägel lackiert und dann, weil er gerade dabei ist, auch noch die Fingernägel. Dann stelle ich mir vor, wie nachts im Schlaf sein Haus brennt und er es verlassen muss. Und er draussen steht in einem seidenen Morgenmantel mit goldenen Applikationen mit Drachen drauf.
Irgendein Geschenk von einem chinesischen Staatschef. Und wie seine Fingernägel glühen, rot glühen, und die Feuerwehr ihn ansieht und nicht weiss, was sie tun soll. Mit einem mächtigen Mann mit rot lackierten Fingernägeln. Sie nehmen ihn mit ins Krankenhaus, um ihn auf eine Rauchvergiftung hin zu untersuchen.
Zur Person
Tine Melzer ist 1978 geboren und lebt in Zürich. Sie studierte Kunst und Philosophie in Amsterdam, promovierte über Ludwig Wittgenstein und Gertrude Stein. Sie ist Dozentin an der Hochschule der Künste Bern und publiziert transdisziplinär. Ihr 2023 erschienener Debütroman «Alpha Bravo Charlie» wurde mehrfach ausgezeichnet. Ihr zweiter Roman «Do Re Mi Fa So» (Jung und Jung 2024) erhielt eine literarische Auszeichnung der Stadt Zürich.