Das Häuschen mit Chatrinas Buchladen hatte schon bessere Tage gesehen. Der Putz war vergilbt, die Spuren früherer Schriftzüge und Werbetafeln zeugten davon, wie schwer es sein mochte, an solcher Stelle ein Geschäft zu betreiben. Desto mehr rührte Margrith die vergissmeinichtblaue Aufschrift über dem Schaufenster, von dessen Holzrahmen die Farbe blätterte: Chantunet da cudeschs. Für Margrith klang es wie «Schatzkästchen».
Die Bibliothekarin war aus Zürich angereist, um Chatrina im Weihnachtsrummel zu helfen. Sie sollte den Kunden die Päckchen packen, einen dicken Stapel Einwickelpapier brachte sie gleich mit. Margrith liebte Geschenkpapier fast so sehr wie Bücher, und weil sie so selten Gelegenheit hatte, es zu benützen, stapelte es sich bei ihr zu Hause. «Meine Mitgift», hatte sie gesagt, als sie es Chatrina gezeigt hatte: abstrakte Muster, Puttenengelchen, klassisches Gold oder die ökologische Variante mit pflanzengefärbtem Recyclingpapier. Auch ihren gesamten kleinen Vorrat an bezaubernden englischen Mustern mit kleinen Lokomotiven, Mistelzweigen und adretten Kindern in Kniehosen und Kleidchen unter übermächtigen Weihnachtstannen spendete sie. «Die lassen wir aber nur im Verborgenen blühen», sagte Chatrina andächtig. Das Papier verschwand zuunterst im Stapel, und Margrith packte darin die Vorbestellungen von Chatrinas bester oder auch nur liebster Kundschaft ein.
Das Packen der Geschenke lag ganz in Margriths Hand. Sie beherrschte zwar keinen der Tricks, welche die Päckchen in den Läden so langweilig machen, das Binden über Eck, geschlitzte Bänder, zurückgefaltete Papierkanten in verwegenem Winkel oder wohldosierter Asymmetrie. Nein, sie band jedes Päckchen so, wie man es eben für seine Liebsten packt, mit charmanter Unperfektheit und sehr viel Liebe. Chatrina ging ihr nur manchmal zur Hand, wenn ein Knoten zu halten war, ausserdem gab sie ihr, wenn die Kundin am Tisch auf ihr Päckchen wartete, insgeheim den entscheidenden Tipp, welches Papier Margrith wählen sollte, indem sie beiläufig mit dem Finger auf diese oder jene Rolle tippte.
Die teuren Bogen kamen erst nach Ladenschluss zum Einsatz. Nachdem Margrith noch schnell in den Volg gehuscht war, um sich ein Sandwich und einen Apfel zu holen, verriegelte Chatrina die Tür, und während sie sich stöhnend der Buchhaltung widmete, damit wenigstens ein Schein von Übersicht gewahrt blieb, packte Margrith die Bücher ein, die im Abholregal warteten.
Jetzt wurde kaum noch gesprochen. Margrith sagte nur etwa: «Ilona Caflisch verschenkt Brechts Liebesgedichte.» Worauf Chatrina noch die Kalkulation abschloss, dann sah sie flüchtig auf, noch leicht verwirrt, liess die Worte sacken, nickte endlich und erklärte: «Das ist ohne Zweifel für Ilonas Mutter, die seit 20 Jahren als Single lebt. Da wollen wir nicht aufdringlich sein. Nimm das violette mit den goldenen Glöckchen.»
«Hans Meier, ‹Urmel aus dem Eis›?»
«Ist für Lino, er ist sechs. Unbedingt Raketen. Und viel, viel Schnur. Kinder wie er können gar nicht genug Schnur haben.»
Oder: «Cynthia Küng verschenkt ‹Orlando› von Virginia Woolf.»
«In Guarda wichteln sie immer, da ist die Verpackung wichtiger als der Inhalt. Haben wir nicht noch etwas von diesem handgeschöpften Büttenpapier mit eingewirkten Silberfäden?»
Margrith zögerte. «Es ist nur ein Taschenbuch, und das Papier war teuer.»
«Du brauchst es nicht herzugeben. Andererseits ist ‹Orlando› einer der schönsten Romane der Weltliteratur, jedenfalls mit der schönsten Frauenfigur. Dafür, dass er mit ziemlicher Sicherheit ungelesen im leeren Bücherregal einer Ferienwohnung verstauben wird, sollten wir ihm wenigstens einen würdigen Abgang bereiten, findest du nicht?»
«Doch, natürlich, wenn man es so sieht …» Margrith liebte Chatrinas Sicht auf die Dinge.
So war es sehr bald sieben Uhr. Schnell sahen sie gemeinsam durch, was noch einzupacken war, Chatrina wählte das Papier, dann eilte sie heim zu ihrer Familie. Die hatte sie auch noch.
Margrith packte weiter Päckchen – bis zehn oder elf Uhr nachts, sie liebte auch diese Stunden. Die Welt draussen war fast völlig verschwunden, nur ganz selten hörte sie die Sirene einer Ambulanz, das Krankenhaus lag etwas höher am anderen Ufer der Clozza. In der Stille der Nacht schien von den Büchern in den Regalen ein feines Murmeln auszugehen – wie die Geräusche schlafender Kinder. Von Zeit zu Zeit knackte es im Gebälk, und immer mal wieder streifte Margrith ein zarter Lufthauch, so als wäre etwas vorbeigehuscht.
Waren alle Päckchen geschnürt, strich sie mit den vom scharfkantigen Geschenkpapier zerschnittenen Fingerkuppen über so manchen Buchrücken und wunderte sich über das Glück, in diesen Tagen hier sein zu dürfen. Spätestens, wenn die Uhr Mitternacht schlug, ging sie zu Bett, sie wollte ja anderntags ausgeruht sein. Sie schlief in einem schlecht geheizten Kämmerchen unterm Dach und fror manchmal, aber sie liebte es auch, weil sich nämlich morgens ihr Atem am Fenster als tausend Eisblumen wiederfand.
Und viel zu schnell war alles vorbei. Der vierundzwanzigste Dezember war noch wilder als die vorangehenden Tage. In gewissem Sinn aber auch ruhiger, denn es gab keine Bestellungen mehr zu machen. Wer im letzten Moment ein Geschenk ergattern wollte, musste mit dem vorliebnehmen, was im Regal stand. Natürlich war Chatrina in ihrem Element. Verlangte ein Kunde Martin Suters neuesten Fälscherroman, exakt und nur den, verliess er fünf Minuten später, mit einem literarischen Engadiner Krimi beseelt, den Laden. Kochliebhabern verkaufte sie teure Bildbände übers Bündner Volksgut, in denen Capuns und Maluns knapp Erwähnung fanden. All die sogenannten Ladenhüter, welche das Jahr hindurch in den Regalen und Auslagen geschlummert hatten, hatten plötzlich ihre grosse Stunde – denn schliesslich gingen alle mit Chatrina einig, dass es hundertmal spezieller und erfüllender war, eine seltene, in Leinen gebundene Alpensage zu verschenken als einen der Bestseller, die in hohen Stapeln an jeder Kaufhauskasse lagen.
Neben jenen Kunden in letzter Minute kamen auch all die Heimkehrer in den Laden, die vielen Engadiner Töchter und Söhne, die inzwischen in den Städten im Unterland lebten und ihre Vorbestellungen abholen wollten. Dieses Jahr freuten sie sich ganz besonders über die hübschen Päckchen, und in ihrer Freude kauften sie gleich noch das eine und andere dazu. Sei es auch nur eines jener kitschigen Schokolädchen.
Gegen vier Uhr dämmerte es draussen, gleichzeitig lichtete sich der Kundenstrom. Das Licht wurde blau, dann sprangen die Weihnachtsgirlanden an, die den Stradun überspannten. Kurz vor fünf Uhr verliess die letzte Kundin den Laden. Chatrina knipste die Schaufensterbeleuchtung aus und verriegelte die Tür. Margrith verabschiedete sich mit einer Umarmung und stieg zum Bahnhof empor, um zurück in ihre kleine Zürcher Einzimmerwohnung zu fahren.
Tim Krohn
Tim Krohn, 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs im Glarnerland auf und wohnte danach 20 Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern im Münstertal. Bekannt geworden ist er mit den Romanen «Quatemberkinder» (1998) und «Vrenelis Gärtli» (2007) sowie Theaterstücken wie dem «Einsiedler Welttheater 2013». Kürzlich ist sein Jugendroman «Wir entern ein Engadinerhaus» erschienen. Krohn steckt auch hinter den Krimis von Gian Maria Calonder.