Unser Esel
Unser Sohn ist bald drei, und er erzählt viel von einer Freundin, die Maria heissen und fern in Sankt Gallen wohnen soll, in einem Stall mit vielen Tieren, darunter einer Giraffe, einem Löwen und einem zahmen Krokodil, und leider auch mit Jesus, den er nicht besonders mag. Wenn Maria sich zum Besuch anmeldet, lässt sie Jesus daher regelmässig zu Hause. Seit wir von Freunden, die einen Reitstall haben und ebenfalls Kinder, zu einem Lagerfeuer im Schnee eingeladen worden sind, an dem der Nikolaus mit Eselchen erschien und allen Kindern freundlich auf den Zahn gefühlt hat, war jenes Eselchen erst Marias Begleiter, dann tauchte es immer öfter allein auf. Inzwischen sind wir so weit, dass unser Junge immer wieder ausreisst, dem Wald von Valchava entgegen, wo jenes Eselchen wohnen soll (Sankt Gallen liegt inzwischen in jenem Wald). Wenn unser Söhnchen morgens aufwacht, berichtet es von schönen Stunden mit dem Eselchen, in denen sie gemeinsam gerechnet und gebacken haben, selbst singen tun sie angeblich auch. Das Eselchen heisst Missfitzspitz und redetet St.-Galler-Deutsch wie auch der Junge. Manchmal muss ich ihm Missfitzspitz malen, auf eine Schiefertafel in Form eines Laptops, die er zu seinem ersten Geburtstag geschenkt bekommen hat. Missfitzspitz hat einen Kopf, der fast so gross ist wie sein Körper, Ohren wie der Osterhase und – das ist wichtig – eine bunte Schwanzquaste. Rot darf nie fehlen, gelb auch nicht, und am liebsten wäre unserem Jungen, ich könnte Missfitzspitz ganz flauschig malen, doch das ist er leider nicht, sondern struppig wie ein Rauhaardackel, und wenn man sich an ihn kuschelt, riecht man danach nach Lebkuchen, frischem Mist und Weihnachtsbaum. Morgen bringen wir ihm Kekse und Punsch in den Wald. Maria kommt angeblich auch.
Schneevolk
Als Sina vier Jahre alt war, setzte sie sich in den Kopf, ganz allein einen Schneemann zu bauen. Mama und Papa durften sie noch anziehen, aber schon in den Garten wollte sie allein gehen. Und als Papa sagte: «Allein kommst du gar nicht rein, der Riegel klemmt», antwortete sie: «Dann gehst du eben heimlich hin und schiebst ihn auf, aber du darfst es mir nicht verraten.» Im Garten wurde es nicht einfacher, der Schnee lag bis fast zu ihren Hüften, und als sie das erste Mal steckenblieb und im Versuch, sich zu befreien, umfiel, war danach der eine Handschuh voller Schnee. Das war schon nicht mehr wirklich ein Spass. Die Kugel zu formen, wollte ihr auch nicht gelingen, und wenn sie den Schnee nur zusammenschob, sah es wiederum nicht aus wie ein Schneemann.
Irgendwann kam Mona vorbei und rief über die Mauer: «Sina, ich gehe einkaufen, ich habe den Bob dabei, willst du mit?» Das war verlockend, doch so schnell gab Sina nicht auf. Inzwischen hatte sie herausgefunden, dass sie den Schnee flach treten, auf dem entstandenen Platz niederknien und Schnee zu Häufchen schichten konnte. Das gab keinen grossen Schneemann, aber viele kleine, und eigentlich, sagte sie sich, waren viele kleine sogar schöner als ein grosser, weil wenn die Katze einem auf den Kopf sprang und der abfiel, war es nicht so schlimm. Ausserdem konnte sie allen Namen geben. Am Schluss hatte sie eine ganze Hortgruppe Schneekinder und war ihre Hortleiterin, schimpfte, weil sie ohne Mütze und Handschuhe in der Kälte standen, und rief endlich: «Jetzt aber alle hinein, es gibt Glühpunsch!»
Der Kranich
Ich selber wollte als kleiner Junge Ministrant werden. Oder Priester. Oder Papst. Es ging mir um die schönen Utensilien, all die goldenen Weihwasserkesselchen und Glocken der Verwandlung und Bordüren und Heiligenscheine. Tatsächlich gab es in unserem Dorf nicht einmal eine katholische Kirche, und was ich über das Ministrantenleben wusste, war womöglich auch nicht wahr. Aber als ich bei einer Postautoreise über den Gotthardpass mit einem meiner Grossväter im Schaufenster eines pensionierten Sattlers das Modell der Dorfkirche aus Zahnstochern gebaut sah, beschloss ich, meine eigene kleine Konfession zu gründen. Als Erstes baute ich auch eine Kirche, dazu einen Altar, einen Friedhof und ein Dorf für die Gläubigen. Dann baute ich einen Pfarrer und eine Pfarrerin, zehn Ministranten und eine Herde Lämmer Gottes. Dass ich mir das Gold so lange aufsparte, hatte vor allem damit zu tun, dass ich nicht wusste, wie ich dazu kam.
Erst als in unserem Tal das Fahrradfahren Mode wurde, kam ich an die Quelle. Ich selbst erhielt kein Fahrrad, aber meine Grossmutter leistete sich eines, und da sie gern verbrecherisch fuhr, stiessen wir es oft zum Fahrradmechaniker. Der besass viele kleine Teile, die entzückend und mysteriös aussahen und die ich sehr gut mit den okkulten Praktiken in Verbindung bringen konnte, die mir für meine Kirche vorschwebten. Am meisten begeisterten mich die Ventile, die aussahen wie kleine Weihwasserpumpen. Davon leistete ich mir eines, aus dem Geld für drei Tage Blumengiessen bei eben jener Grossmutter. Und weil ich mir einbildete, mit meiner Frömmigkeit Autos in Kraniche verwandeln zu können, verbrachte ich danach viel Zeit auf der Strasse und beim Garagisten. Ein einziges Mal nur, aber immerhin, verwandelte sich ein Renault tatsächlich, breitete die Schwingen aus, schnappte mein Zaubergerät und flog damit aus dem Tal. Der Schreck sass mir noch lange in den Gliedern.
Tim Krohn
Tim Krohn ist 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren und in Glarus aufgewachsen. Nebst Prosatexten verfasste der Autor zahlreiche Dramen und Hörspiele. Bekannt wurde er mit dem Roman «Quatemberkinder» (1998). Im August 2018 wurde das Buch «Julia Sommer sät aus», der dritte Band seines Projekts rund um menschliche Regungen, veröffentlicht. Kürzlich erschien sein Krimi «Engadiner Abgründe» unter dem Pseudonym Gian Maria Calonder. Tim Krohn lebt mit Frau und Kindern in Santa Maria im bündnerischen Val Müstair.
www.timkrohn.ch