Es gab keine Entscheidung, dass sie die Nacht zusammen verbringen würden. Doch in Petzis Mädchenzimmer herrschte eine sonderbare Stimmung, irgendwie geheiligt, aber auch hitzig. Vermutlich trug auch das Wetter zu dieser Stimmung bei: Es dämmerte, gleichzeitig verdichteten sich die Wolken, und es wurde schwül. Schweigend sahen sie zu, wie in einiger Entfernung, sei es überm Bodensee oder am jenseitigen Ufer, sich ein Frühlingsgewitter entlud.
Vielleicht auch mehr als eines, denn wie sehr zarte, in verschiedener Richtung laufende Gewebe lagen ganz offensichtlich mehrere Regenschleier voreinander, und die Blitze erleuchteten mal diesen, mal jenen. Noch davor flatterten Nachtfalter oder Motten, angezogen durch den Rauch des Grills, den Petzis Vater Robert beheizte. Es war Bettina, die endlich die Hand auf ihren Arm legte, während sie sagte: «Sieh doch, die Gänse, wohin ziehen sie wohl?»
«Ich glaube, ins kleine Moor zwischen altem und neuem Rhein», antwortete Petzi. «Sie fliegen diese Strecke jeden Abend.» Danach schwiegen sie schon wieder, ehe Bettina nachschob: «Es muss ein schönes Leben sein, das diese Enten führen. Jeden Morgen gemeinsam an den See, abends im Schwarm zurück zum Schlafplatz. Ein so kleiner, überschaubarer Lebensraum und von so atemloser Schönheit.» «Ich finde sie nicht atemlos, im Gegenteil», sagte Petzi.
«Wenn ich hier sitze und hinaussehe, wird alles weit.» «Ja, das fühle ich auch», gab Bettina zu. «Trotzdem ist da auch eine Beklemmung, irgendwie ist es fast zu viel des Guten. Die Natur ist so vollkommen, und wir armen Menschen sehen sie nur durch ein Fenster. Irgendwann, vor weiss Gott wie vielen tausend Jahren, waren wir Teil davon.
Hätte ich jedenfalls die Wahl, in der Carnegie Hall mit Carla Bley, Archie Shepp oder Alice Coltrane aufzutreten oder aber nackt, als Tier, mit dir und einem Schwarm Gänse im Dickicht am See zu leben, mit keinem anderen Ausblick als dem Himmel mit seinen Wetterwechseln und dem Blick in deine Augen, der Fall wäre klar.» Petzi wandte kurz den Kopf und sah sie an, in der hereinbrechenden Dunkelheit erkannte sie allerdings nicht viel. Sie überlegte gerade, ob dies nicht der Moment sei, sich tatsächlich nackt auszuziehen, als ihr Vater unterm Fenster stand.
«Seid ihr da?», rief er ins dunkle Zimmer hoch. «Das Osterlamm wäre jetzt gar.» «Willst du Fleisch?», fragte sie Bettina. «Nein. Doch, deines», sagte Bettina. «Abgesehen davon bin ich Vegetarierin.» Sie knipste die Nachttischlampe an. Sofort war auch ein Falter im Zimmer. Petzi schloss das Fenster, dann sah sie zu, wie Bettina die Bluse aufknöpfte. Sie hatte die porzellanweiss schimmernde Haut echter Rothaariger, obwohl sie das Haar mit Henna färbte, und kurz wehte etwas Patschuli herbei.
«Jetzt du», sagte Bettina. Petzi zog das T-Shirt aus und öffnete den BH. Dann setzte sie sich neben Bettina auf die Bettkante, legte die Hände auf ihre Schultern und wunderte sich, wie kühl Bettinas Haut war. Bettina durchfuhr ein Schauer, sie umarmte Petzi, presste sich an sie und sagte: «Ich sterbe vor Nervosität.» Petzi dagegen war völlig ruhig, alles wirkte nun ganz zwangsläufig. «Weisst du, was ich glaube?»
Dann fiel es ihr aber doch nicht so leicht, Worte für ihre Ahnung zu finden, und endlich verlor Bettina die Geduld, küsste ihre Lippen, erst die untere, dann die obere, berührte Petzis Gesicht, ihr Haar, den Nacken, und flüsterte: «Ich kann nicht fassen, dass ein Lebewesen so vollkommen sein kann.» Petzi musste lachen. «Wie war noch das Filmzitat?», fragte sie. «Auch ich habe Karies, auch ich habe den Husten.»
Sie wollte eine flapsige Bemerkung über eine Zahnarztversicherung für ihre künftigen Kinder nachschieben, als ihr einfiel, wie unsinnig dieser Scherz zwischen zwei Frauen wäre, und sie eine Trauer fühlte, die nichts Süsses hatte. «Was?», fragte Bettina halb neugierig, halb ängstlich. «Woran hast du gedacht? Bereust du schon?» «Wir tun doch gar nichts», erwiderte Petzi, «was sollte ich bereuen?» «Du siehst aber traurig aus», stellte Bettina fest, gerade als Robert anklopfte und rief: «Ich stelle euch das Essen vor die Tür.»
«Danke, Papa», antwortete Petzi, dann sagte sie zu Bettina: «Vor ein paar Jahren war ich mit Mama und Papa in Polen. In einer Kathedrale stand eine sonderbare Madonna mit riesigen Augen, die vor vielleicht 500 Jahren jemand geschnitzt hatte. Erst begriff ich gar nicht, warum sie mich so berührt. Sie sah so ganz und gar menschengemacht aus, aber gleichzeitig hatte die Zeit mit ihr etwas angestellt, das Menschen nicht können.
Ich roch die Kirche, es roch nach Gruft und Weihrauch und wieder ganz viel Geschichte, und in meinem Kopf wurde alles unendlich gross, viel grösser als der eigentliche Augenblick war, weil sich der Anblick der Madonna mit all dem verband, was ich gehört und gelesen hatte, über Menschen, die in die Kathedrale geflohen waren, Menschen, die von der Kirche verbrannt worden waren.» Sie lächelte. «Hast du Hunger?» «Ich könnte gerade heulen, du Affe», sagte Bettina, und wirklich hatte sie Tränen in den Augen.
Sie fasste Petzis Gesicht und küsste sie, vielleicht stürmisch, vielleicht verzweifelt, jedenfalls sehr leidenschaftlich. Petzi sah einen Strom von Licht und Schmerz und Zauber, gleichzeitig hörte sie draussen quakend eine Gans oder zwei vorbeifliegen, Nachzügler wohl, die nach dem Schwarm riefen. Und in jenem Augenblick erfasste sie eine sonderbare, bedingungslose Gewissheit, dass sie von nun an in ihrem Leben niemals mehr einsam sein würde.
Zur Person
Tim Krohn wurde 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs im Glarnerland auf und wohnte danach 20 Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in einem rund 400-jährigen Palazzo im Bündner Dorf Santa Maria im Val Müstair.
Bekannt wurde der Schriftsteller mit «Quatemberkinder» und «Vrenelis Gärtli». Seither hat er zahlreiche Romane und Theaterstücke geschrieben. Unter dem Pseudonym Gian Maria Calonder schreibt er Bestseller-Krimis, die im Engadin spielen.