An guten Tagen verspätet sich mein Dämon. Da bleibt mir noch Zeit, einen Satz zu schreiben oder zumindest ein Wort, wenn es kein allzu langes ist, ein «Als» zum Beispiel. Das ist ein guter Anfang, den ich sofort meinem Lektor schicken möchte, aber spätestens dann kommt mein Dämon schon hereingestürmt, polternd und atemlos, reichlich unglaubwürdig entschuldigt er sich für die Verspätung. Er setzt noch beim Poltern die Lesebrille auf, die er eigentlich gar nicht benötigt, die er nur trägt, um irgendwie seriöser zu wirken oder um sie übertrieben bedächtig wieder absetzen zu können, nachdem er einen kurzen Blick auf meinen Bildschirm geworfen hat, auf das nicht allzu lange Wort, die drei Buchstaben.
Dann dreht er sich zu mir um, schaut mich an, etwas mitleidig und etwas verächtlich und unendlich gelangweilt. «Als», sagt er. «Als», sagt er noch einmal. «Wirklich Als?», fragt er und zieht eine Augenbraue hoch, das kann er gut und weiss es, und ich sage: «Ja, Als», und was denn bitteschön falsch an einem Als sei, und das hätte ich lieber nicht fragen sollen, denn mein Dämon lacht sofort auf. Er schaut sich theatralisch nach allen Seiten um. Er fuchtelt mit seiner Lesebrille durch die Luft. Was daran falsch sei, fragt er. Alles sei daran falsch. Restlos alles. Ein Als sei langweilig, mindestens hunderttausend Mal hätte er das schon gelesen. Ein Als sei peinlich, hochgradig peinlich sogar. Ein Als sei geradezu armselig. «Als, Als, Als», wiederholt er immer wieder. Das könne doch unmöglich mein Ernst sein. Als – Er bitte mich. Und ob ich einen Schnaps hätte. Er brauche jetzt dringend einen Schnaps. Und setzen müsse er sich, hinlegen, er brauche Riechsalz, er brauche frische Luft, er brauche verdammt noch einmal ein vernünftiges Wort, ein halbwegs vernünftiges würde reichen, um dieses Als zu vergessen, und ich versuche, ihn zu beruhigen. Er solle doch erst einmal das nächste Wort abwarten, und mein Dämon sagt, da sei er ja mal gespannt, da sei er ja mal wirklich gespannt, wie ich dieses Als wohl wieder gutzumachen gedenke, und er verschränkt die Arme vor der Brust, beugt sich über meine Schulter und starrt mit mir auf den Bildschirm, auf den ungeduldigen Cursor, und natürlich fällt mir dann nichts ein.
Ich schreibe ein e und lösche es wieder, ich schreibe ein H und lösche es wieder, und mein Dämon klopft mir auf die Schulter. «Siehst du», sagt er, und er sagt es sehr ruhig, sehr freundlich. «Dafür bin ich ja da», sagt er, und ich solle erst einmal einen Kaffee trinken gehen oder einen meiner rührend nutzlosen Spaziergänge machen. Ich solle erst einmal Mails checken. Vielleicht hätte ich ja diesen Preis gewonnen, diesen neuen, den noch keiner kennt, und der so hoch dotiert sei, dass ich nie wieder einen Roman schreiben müsse. Ich solle erst einmal in Ruhe das Internet durchlesen, mehrmals, und auf jeden Fall sollte ich das mit dem Schreiben lieber eine Zeit lang lassen, für ein paar Minuten oder für immer. Das sage er mir als Freund, als mein einziger Freund, denn alle anderen hätten sich ja schon längst von mir abgewandt, das hätte ich nur noch nicht gemerkt. «Dem fällt doch nichts mehr ein ausser Als», würden alle tuscheln, zumindest die Wohlwollenden. Die weniger Wohlwollenden würden sich das Tuscheln sparen und es gleich laut rufen. Und lachen würden sie dabei, und mein Lektor würde mitlachen und meine Familie auch, auf gepackten Koffern. Schallend würden sie lachen, der Sachbearbeiter von der Künstlersozialkasse, der meine Kündigung schreibt, der Bankberater, der mein Konto sperrt, der Wikipedia-Nerd, der meinen Eintrag löscht. Und mein Dämon macht vor, wie sie alle lachen, er tanzt lachend um mich herum, so schnell, dass er vor meinen Augen verschwimmt und aussieht wie mein bestätigt lachender Vater, er sieht aus wie meine besorgt lachende Mutter, er sieht aus wie ein Tränen lachender FAZ-Kritiker, ein glucksender ZEIT-Kritiker, wie ein sich auf die Schenkel schlagender Heilbronner-Stimme-Volontär, er sieht aus wie die sich kaputt lachende Spiegel-Bestsellerliste, er sieht aus wie leseratte 456, die mir bei amazon nur einen Stern gegeben hat, und das auch nur, weil null Sterne ja leider nicht gehen. Er sieht aus wie mein ehemaliger Deutschlehrer, der eigentlich nie lachte, jetzt aber schon, er sieht aus wie mein ehemaliger Sportlehrer, der es schon immer geahnt hatte, er sieht aus wie die komplette prustende Jury des Deutschen Buchpreises, er sieht aus wie Peter Bichsel (lakonisch lachend), wie Zadie Smith (fabulierend lachend), wie ein sich lachend im Grabe umdrehender Richard Brautigan. Er sieht aus wie alle Ärzte und Lehrer und Innenarchitekten und Friseure, die irgendetwas tun, das nichts mit einem Als am Hut hat, und er sieht aus wie mein enttäuschtes zwölfjähriges Ich, das nicht einmal schallend lachen kann, das nur den Kopf schüttelt, immer wieder, und mich dabei ansieht und sich um seine Zukunft betrogen fühlt. Kein Wunder, dass ich nach draussen stürme, in all dem lachenden und anklagenden Gewimmel bleibt kein Platz. «Warte doch», ruft mein Dämon mir hinterher, er sei noch längst nicht fertig, und das ist genau das, was ich befürchte.
Und ich weiss nicht, wie das geschieht, aber irgendwann, Wochen, Monate, Jahre später, liegt dann doch mein Buch vor mir, vielleicht kein gutes Buch, sicherlich kein sehr langes Buch, aber zweifellos ein Buch. Und während ich es noch ungläubig anschaue, kommt mein Dämon schon wieder dazu. Er trägt eine schlecht gebundene Krawatte und riecht reichlich streng aus dem Mund. «Glückwunsch», sagte er. Aber ich wisse schon, dass ich all das ihm zu verdanken habe. Und ob ein Dankeschön nicht angemessen wäre, wenn schon kein Blumenstrauss oder die Hälfte des Garantiehonorars, nur ein kleines Dankeschön. Und ich nicke müde und glaube ihm, ich glaube ihm, ich glaube ihm das auch noch. «Dankeschön», sage ich. «Kein Ding», sagt er und nimmt mich fest in den Arm, presst mich an seine raue, vertraute Brust, und ich lasse es geschehen.
Tilman Rammstedt
Tilman Rammstedt ist 1975 im deutschen Bielefeld geboren. Er hat Literaturwissenschaft und Philosophie studiert und Romane und Erzählungen veröffentlicht. 2008 wurde er mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Zuletzt ist von ihm der Roman «Morgen mehr» (2016) erschienen. Daran hatte der von zeitweiligen Schreibblockaden geplagte Autor öffentlich und interaktiv auf seinem Blog geschrieben – täglich ein Kapitel. Tilman Rammstedt lebt in Berlin.