Nichts Schlimmeres, als wenn ein Orchester dauernd mit einem früheren Dirigenten in Verbindung gebracht wird. Doch genau das ist das Problem von Winterthur. Musikfreunde verbinden das Musikkollegium mit der Legende Hermann Scherchen, der von 1922 bis 1950 ständiger Gastdirigent war.
Noch schlimmer ist nur: mit gar nichts in Verbindung gebracht zu werden. Für Dirigenten war die Stadt in den letzten Jahren bloss Durchgangsstation, sei es für Franz Welser-Möst (1987 bis 1990 in Winterthur) oder den Cellisten Heinrich Schiff (1995 bis 2001). Für anhaltende Höhenflüge reichte das nicht. Viel eher brachte Douglas Boyd von 2000 bis 2016 Konstanz ins Orchester, zahlreiche CD-Aufnahmen zeugen davon.
Heute mehr Dirigent als Geiger
Die Krise von 2012, als Sparpläne das Musikkollegium arg bedrängten, scheint überwunden. Direktor Samuel Roth hat viel unternommen, um das Orchester in der Stadt stärker zu verankern, im Juli öffnet man sich der breiten Bevölkerung mit dem «Openair im Rychenbergpark». 2018 werden an drei Abenden Pianist Teo Gheorghiu und Tenor José Cura auftreten. Es gibt Pläne, im Sulzer-Areal einen neuen Konzertort zu etablieren.
Zu diesem Aufbruch passt der Chefdirigent. Seit 2016 steht der 1961 in Salzburg geborene Geiger Thomas Zehetmair dem Musikkollegium vor. Er ist ein verspielt-ambitionierter Musiker, der sich in seinen 40 Karrierejahren als Geiger immer wieder veränderte, in revolutionären Interpretationen und neuen Werken Inspiration fand. Fast folgerichtig begann er 2000 zu dirigieren und hatte kurz darauf die ersten Chefdirigentenposten in England inne, später einen in Paris, ab 2019 in Stuttgart. In mittelgrossen, nicht weltberühmten Formationen hat er seine Berufung gefunden. Zehetmairs Drang, neue Werke kennenzulernen und Wege zu gehen, die er als Geiger ausgeschritten hatte, ist riesig. «Inzwischen freue ich mich, wenn ich als Gastdirigent eingeladen werde und nicht selber spielen muss», sagt er. Die Kammermusik hat er sehr reduziert; zu 60 Prozent wirkt er als Dirigent, zu 40 noch als Geiger. Bisweilen verbindet er Dirigieren und Geigenspielen aber noch und wagt im kommenden Abonnementkonzert einmal mehr, Beethovens Violinkonzert aufzuführen.
An die grosse Glocke hängt er das nicht. Zehetmair verspricht sowieso nicht das Blaue vom Himmel. «Ich kann das grösste Wolkenkuckucksheim im Kopf haben, wenn nicht alle im Orchester mitmachen, nützt das nichts. Wenn wir Glück haben, kommen wir aber sehr weit.»
Durchaus eine gewisse Risikofreude
Er ist überzeugt, dass die Winterthurer ihm und dem Orchester folgen, erkennt eine Offenheit, sieht das Orchester als einen wichtigen Teil des Kulturguts der Stadt. «Es ist meine Aufgabe, das zu pflegen.» Doch er erwähnt gleich, dass die Sache zweischneidig ist. «Man wird risikofreudiger, will aber auch mehr Leute gewinnen. Wir wollen beides, da sind wir unbescheiden.» Risikofreudiger heisst: Er programmiert ziemlich modern. Zur Bruckner-Sinfonie stellte man im Frühling ein Werk des 92-jährigen Friedrich Cerha. Was beim Tonhallepublikum in Zürich für Stirnrunzeln und vor allem für leere Plätze sorgen würde, findet Zehetmair normal. Er glaubt, dass man auf die alte, von Scherchen etablierte Musiktradition in der Stadt aufbauen kann. «Die Leute sind interessiert, wissen, dass wir eine programmatische Identität haben, sie sind bereit, auch mal für ein neues Stück.»
«Die Orchestergrösse ist unsere Identität»
Erfolg in der Stadt, Tourneen, CDs … Zehetmair will all dies, sagt aber erlösend nüchtern: «Wir sind kein Tourneeorchester, doch wir wollen auswärts spielen.» Auswärts heisst auch in Zürich, seit 2015 gibt es dort einen Musikkollegium-Zyklus in der Kirche St. Peter. Man tritt mit einem Orchester an, das kleiner als das Tonhalle-Orchester und grösser als das Zürcher Kammerorchester ist. Für Zehetmair ein Ideal: «Wir können etwas sehr Eigenes bieten. Wir spielen Brahms’ Sinfonien in der Besetzung, die er sich wünschte. Die Orchestergrösse ist unsere Identität.» Statt von Wettbewerb redet Zehetmair lieber vom Tempo des dritten Satzes der Bruckner-Sinfonie, von der Musik, die er über alles liebt. «Wettbewerbsdenken hat nichts mit Musik zu tun. Auch wenn wir das Maximum ausschöpfen wollen.» Das sind schöne Worte, doch: Der Wettbewerb spielt.
Das Musikkollegium kann sich mit den Zürcher Orchestern messen. Die Frische und die Emotionalität des Winterthurer Klangs ist in der von uns gehörten Probe packend. Chefdirigent Zehetmair erreicht mit bisweilen bunten Sprachbildern erstaunliche Reaktionen seiner Musiker, man spürt die Bindung zum Dirigenten. «Es läuft gut», sagt Zehetmair und fügt an: «Die Vertragsverlängerung ist unterschrieben.»
Aufführungen oder Konzerte
Mi/Do, 20.6./21.6., 19.30
Haydn «Die Schöpfung»,
Dirigent: Thomas Zehetmair, Stadthaus Winterthur
Sa, 23.6., 17.00
Freikonzert mit Kit Armstrong und Thomas Zehetmair, Stadthaus Winterthur
Fr, 6.7.–So, 8.7.
Classic Openair im Rychenbergpark Winterthur
CDs
Mozart & Schoeck
Serenaden
Leitung & Violine Roberto González
Monjas,
Musikkollegium
(Claves 2017)
Prokofjew
Violinkonzerte Nr. 1 & 2 Solist Rudolf Koelman
Leitung Douglas Boyd
Musikkollegium Winterthur (Challenge Classics 2016)
Mendelssohn
Symphonies
No. 1 & 5
Musikkollegium Winterthur,
Thomas Zehetmair (Dabringhaus 2013)