In der griechischen Mythologie gibt es zwei Göttinnen, die Gegenspielerinnen sind. Die eine Göttin ist Lethe, sie verkörpert das Vergessen. So wie sie heisst ein Fluss am Eingang zum Totenreich; aus ihm trinkt die Seele des frisch Verstorbenen, was den totalen Blackout bewirkt.
Ist es möglich, dass auch Lebende an das Lethe-Wasser geraten? Dass sie also, zum Beispiel in irgendeiner Bar, einen Cocktail nehmen, der sozusagen ihre Festplatte löscht? Jedenfalls – wir sind somit endgültig wieder in der Gegenwart – lese ich seit Monaten mit Begeisterung sämtliche Krimis der Rebus-Serie von Ian Rankin. Schön systematisch gehe ich vor, anhand der Wikipedia-Werkliste, ich startete also mit «Knots and Crosses» von 1987. Es ist mir, aber das nur nebenbei, unverständlich, wie jemand, falls er (oder sie) Englisch kann, solche Krimis auf Deutsch liest. Nur schon die schottischen Ausdrücke, die zum Beispiel ein Rankin einstreut; seine Rebus-Geschichten spielen in Edinburgh. Der «haar» etwa ist ein wandartig heranziehender Nebel.
Rebus ist eine klassische Figur, der Kriminalpolizist als «loner», als Einzelgänger, der Vorgesetzten verhasst ist, weil er sich in seine Fälle verbeisst und dann nicht mehr loslässt. Rebus steht immer am Abgrund und am Rand der Entlassung. Er ist ein Desaster, seine Beziehungen mit Frauen sind zum Scheitern verurteilt, weil er die Frau immer vergisst, wenn die Ermittlung intensiv wird. Auch hat er die unnachahmliche Gabe, reiche und wichtige Leute zu beleidigen und zu brüskieren. Ebenso interessant wie Rebus ist die ihm beigesellte Detektivin Siobhan Clarke, die in England aufgewachsen ist, aber einen irischen Namen trägt, den sie hasst, weil ihn keiner richtig ausspricht. Clarke bewundert Rebus, doch macht dieser sie gleichzeitig wütend mit seiner Unmitteilsamkeit, seiner Schroffheit, seinem ausufernden Drang zu Bier und Single Malt. Clarke könnte manchmal die Tochter von Rebus sein, manchmal wieder sieht es aber auch so aus, als würde sie seine Liebhaberin werden. Doch das darf nicht sein. Es würde ein bei allen Schwankungen fein austariertes Verhältnis aus dem Gleichgewicht bringen und die Serie ruinieren.
Rankin ist grossartig, jawohl. Wenn ich fertig bin, will ich mich daran machen, auch die Krimis und Thriller von Robert Crais, George Pelecanos, James Lee Burke, Lee Child und Michael Connelly schön ordentlich von Anfang bis Ende durchzulesen. Das wird mir das Jahr 2017 versüssen, denn diese Herren waren und sind fleissige Schreiber. Bin ich mit ihnen fertig, gibt es weitere Namen wie Deon Meyer – und wer weiss, vielleicht müsste ich auch einmal einen Ausflug in den Horror machen und Stephen King durchackern.
Doch was hat das alles nun mit Lethe zu tun und dem Trank des Vergessens? Nun, ich habe die erwähnten Autoren samt und sonders schon einmal gelesen. Vor 10, vor 20 Jahren. Was ich jetzt mache, ist Zweitlektüre. Als mir nämlich vor einiger Zeit der erste Rankin zufällig wieder in die Finger kam, stellte ich beim Anlesen des ersten Kapitels fest: alles vergessen. Nichts geblieben. Nun, fast nichts. An die Handlung im Grossen erinnere ich mich überhaupt nicht mehr. Im Kleinen allerdings gibt es bisweilen starke Szenen oder Bilder, die in mir die Ahnung auslösen: Das kenne ich doch schon, das habe ich irgendwo bereits gelesen. Vielleicht habe ich das Glas mit dem Lethe-Saft irgendwie nicht ganz ausgetrunken, weil ich nach Hause musste, an jenem schicksalhaften Abend.
Ist das schlimm, diese Veralzheimerung des Lesers Widmer? Ich finde, nein. Es gibt nichts Besseres, als bewährte Kunst ein zweites Mal zu geniessen. Ein Buch wieder zu öffnen, von dem man weiss, dass es gut ist, weil einem das Gefühl geblieben ist: Sein Verfasser kanns. Lethe ist eine positive Göttin, keine Finsterfrau. Ihre eingangs erwähnte Kontrahentin ist im Übrigen die Person mit dem schwierigen Konsonantensprung im Namen: Mnemosyne. Sie ist die Göttin des Gedächtnisses. Wer aus ihrem Fluss trinkt, der erinnert sich an alles und weiss alles. Ob das schön ist? Ich stelle mir vor, dass es eine ziemliche Qual sein kann, sich an jedes Detail des eigenen Lebens erinnern zu können, nein, zu müssen. Auch wenn man allenfalls reich wird dank der Sendung «Wer wird Millionär?» mit Günther Jauch – die Nachteile dürften überwiegen. Garantiert verstärkt das Sich-an-alles-Erinnern zum Beispiel die Tendenz, nachtragend zu sein. Die Allwisserei kann einen sozial isolieren. Wer will schon einen Freund, Arbeitskollegen, Lebenspartner, der einen permanent belehrt? Der bei einem Streit jede, aber auch jede hinterletzte Begebenheit hervorkramt, sofern sie ihm als Argument nützt: «Du hast mir am 20. Mai 1998 um 15 Uhr 53, als wir im alten Opel, den wir damals hatten, zwischen Langnau und St. Urban unterwegs waren zum Abendessen mit Emmi, gesagt, du wollest einen Hund. Und du hast damals darauf bestanden, dass es ein Jack Russell sein muss. Ha!»
Lethe ist die bessere Göttin als Mnemosyne. Vergessen ist eine Gnade, wenn wir es recht beschauen. Gerade Krimiautoren profitieren vom Phänomen. Die Buchhändler. Und wir Leser. Wer weiss, vielleicht gibt es irgendwann in 20 Jahren, wenn ich pensioniert bin, die dritte Rankin-Lesung. Ich bin überzeugt, ich werde John Rebus und seine Kriminalmuse Siobhan wieder lieben und völlig neu entdecken. Lethe sei Dank.
Thomas Widmer
Der gebürtige Appenzeller Autor ist Redaktor beim «Tages-Anzeiger» und schreibt in verschiedenen Publikationen regelmässig über das Wandern. Thomas Widmer lebt bei Zürich.