Die lateinische Formel fiel mir ein, als wir letztes Jahr von der Arte Albigna heimreisten, einer Freiluft-Kunstausstellung in der alpinen Welt des Bergells: Si tacuisses. Der Spruch kommt mir seither immer wieder einmal in den Sinn, wenn ich eine Ausstellung besuche oder ein Museum. Si tacuisses: «Hättest du doch geschwiegen.»
Einiges war gut an Arte Albigna. Als wir oben dem Seilbähnli entstiegen, standen wir vor der gewaltigen Mauer des Albigna-Stausees. Gleich weiteten sich die Augen: Ein blauer Piaggio, ein italienisches Dreirad-Transporterli, klebte, Fahrtrichtung talwärts, in halber Höhe an der annähernd senkrechten Mauer. Der Piaggio schien in der Fahrt festgefroren, die so aber nicht hätte stattfinden können; sie wäre ein Sturz gewesen. Um eine Installation Roman Signers handelte es sich, des bekannten Innerrhoder Künstlers. Humor im Gebirge war das, ein surrealer Kick, wir grinsten, lachten, redeten, das Werk weckte in uns eine elementare Schaufreude und löste Bilder im Kopf aus. Ich fand, dass der Piaggio – vor allem dank der seitlich ausgeklappten Rückspiegel – wirkte wie ein blauer Käfer.
Grossartig. Eines aber ärgerte im Laufe des Tages immer mehr und nervte bereits zu diesem frühen Zeitpunkt. Die Vorträge der Person nämlich, die uns begleitete; wir hatten eine Führung gebucht. Die Führerin folgte in etwa dem Prospekt, in dem es heisst, Signer arbeite «seit den 1970er-Jahren an einer Neudefinition der Skulptur». Er beziehe «Zeit, Beschleunigung und Veränderung mit in den skulpturalen Prozess ein» und erkunde «die Möglichkeiten des Mediums».
Was für armselige und gleichzeitig hochtrabende Sätze! Vor vielen Jahren hat der deutsche Sprachwissenschaftler Uwe Pörksen den Begriff «Plastikwörter» geprägt für diese Art Fachjargon, der erstarrt ist. Erkaltet. Technokratisch. Was wir im Bergell hörten, waren Plastikwörter.
Im Fall der Signer-Installation fand ich das nicht so schlimm. Der käferige Piaggio war derart sinnlich und wirkte so direkt und farbig und gemütsstimulierend auf uns, dass wir die Zurückgebliebenheit des Vermittlungsversuches durch Sprache einfach ignorierten. Wir nahmen das Expertengebrabbel gar nicht gross zur Kenntnis. Zu stark war der Eindruck des unschuldig verschleppten Äutelis in der nackt-bedrohlichen Mauer der Stromerzeugungsanlage. Signers Fantasie erwies sich wieder einmal der Wirklichkeit gewachsen.
Anderswo war es bei Arte Albigna aber leider anders. Denn vieles vom Gezeigten war doch ziemlich banal. Schon an der Talstation hatte das begonnen, wo an einer Wand grelle Neonröhren schwungvoll drei italienische Wörter abbildeten: «Tiramisù», «Lasciamilì» und «Buttamigiù». Es handle sich um die Namen dreier naher Klettergebiete, erfuhren wir, Judith Albert habe das Werk kreiert. Und: «Die Künstlerin hat eine ausgeprägte Affinität für das geschriebene Wort, seine Bedeutungen und allfällige Doppelbödigkeiten.»
Der Kommentar wäre okay gewesen als Auftakt zu einer präziseren Betrachtung. Bloss verharte der Rest des Gesagten im Oberflächlichen. Umso jämmerlicher wirkte die Neonschrift. Wir fanden die Installation kraftlos, oberflächlich und hilflos – ebenso wie später und höher oben die überall im felsigen Gelände montierten, gelbrot kolorierten Flämmchen. Man durfte ein wenig assoziieren, kam damit aber schnell an ein Ende. Gleiches gilt für den Text – er war Pseudotiefsinn: «Die Bezwingung der rauen Alpenwelt wäre ohne Feuer und die daraus resultierenden Techniken nicht möglich gewesen. Feuer fungierte als jenes lebenserhaltende Element, dank dem die Menschen kalte Winter überstehen, sich vor Tieren schützen oder ihre Nahrung räuchern konnten.»
Mir würde es reichen, wenn jeweils im Museum oder in der Ausstellung ein Schild angebracht wäre oder im Begleitprospekt die Information geliefert würde, wie das Werk heisst und wer es in welchem Jahr geschaffen hat. Oder dann würde ich mir mehr geistigen Schwung von den Kommentatoren wünschen. Freiheit der Sprache. Originalität. Weniger Beschreibung des Gezeigten und mehr Ab- und Ausschweifung. Nehmen wir zur Illustration, wie das funktionieren könnte, ein tolles Fotobuch. Vor einigen Jahren publizierte der Fotograf Mäddel Fuchs den Schwarzweissband «Hag um Hag. Ein Requiem» über die Lattenzäune im Appenzellerland, die zunehmend verschwinden. Der Hag ist ein magisches Objekt. In dem Wort wohnt, etymologisch gesehen, übrigens die Hexe, die auf dem Hag hockt, der den Bereich der Menschen von der Wildnis und von der Geisterwelt trennt. Ein herrlicher Aufsatz des Sprachkenners Christian Schmid erläuterte das im Buch, dazu kamen schlaue und wilde Texte vom Dichter Peter Weber und anderen.
So muss, so kann es funktionieren. Aber meistens ist es doch so, dass diejenigen versagen, die Kunst sprachlich eskortieren. Vielleicht passiert das gerade aus dem Wunsch heraus, möglichst erwachsen, abgeklärt und vor allem insiderisch zu klingen. Blättern wir doch kurz im Programm 2018 des Aargauer Kunsthauses in Aarau, das ich sehr schätze und regelmässig besuche; nirgendwo sonst im Land finde ich derart viel Inspirierendes. Aber die Texte, nun ja. Hier zwei Müsterli. Erstens: «Im Zentrum von Cédric Eisenrings Arbeit steht die Frage nach dem Erzählerischen. Er untersucht das narrative Potenzial bildnerischer Medien wie Druckgrafik, Zeichnung, Skulptur und Installation. Häufig greift er dabei auf bestehende Materialstränge aus der Hoch- und Populärkultur zurück und verwebt diese zu neuen visuellen Erzählungen.» Und zweitens: «Die Künstlerin entwickelt einen sehr dichten und poetischen Ausstellungsparcours, in dem das Visuelle mit Musik, Geräuschen und Stille in ein einzigartiges Wechselspiel tritt, als ob Zeit und Zeitlichkeit ein anderes Mass annähmen.»
Muss das sein? Soll dass so klingen? Geht es nicht anders? Fröhlicher, bunter, eigener, individueller? Mit unverwechselbaren Wörtern? Finde nur ich diese Art von Reden und Schreiben schrecklich? Mit grossem Vergnügen werde ich weiterhin Kunst betrachten, wo sich die Gelegenheit bietet. Und mit ebenso grossem Schaudern werde ich lesen, was die Profis mir dazu erzählen. Si tacuisses. Hättest du doch geschwiegen, Kunstvermittlung.
Thomas Widmer
Der 55-Jährige ist Reporter und Wanderkolumnist bei der «Schweizer Familie». Der Arabist und Islamwissenschaftler schrieb bisher fünf Bücher, darunter eines über arabische Kalligrafie der Gegenwart sowie den Bestseller «Schweizer Wunder». Zwei Jahre hintereinander sass er in der Jury des Klagenfurter Bachmann-Preises.