Auf der Erde wird der Platz knapp, es droht Hunger, Menschenmassen flüchten. Damit die Städte «ihren Menschenüberfluss» abwerfen können, ist ein neuer Erdteil nötig. Der Plan, den Ingenieure und Physiker in Alfred Döblins Roman «Berge Meere und Giganten» aushecken, ist verwegen: Grönland soll vom Eis befreit werden. Die erforderliche Hitze, um den Eispanzer aufzutauen, liefern die grossen Vulkane Islands. Hekla, Katla, Herdubreid, sie alle werden gesprengt, ihre Glut auf Frachter und damit an die Küste Grönlands gebracht, wo heisse Schleier aus den Schiffsbäuchen strömen und sich über den Kontinent legen. Und tatsächlich, die Gletscher werden bezwungen. «Die Hitze rieselte in ihre Eingeweide. Die Firne stemmten sich auseinander, Luft saugten sie auf. Ihre Hohlräume, von Wasser plätschernd, erweiterten sich wie Lungen.»
Alfred Döblins 1924 erschienener Text ist masslos. Ein expressionistischer Science-Fiction, ein Parforceritt durch Kontinente und Jahrhunderte. Bis ins 27. Jahrhundert führt uns der Autor. Und doch sind einem viele der apokalyptischen Skizzen inzwischen vertraut. Was Döblin als Klimaexperiment ausbreitet, nennt sich heute Geo-Engineering. Bloss die Vorzeichen haben sich umgekehrt: Statt das Eis zu schmelzen, wollen es Klima-Ingenieure jetzt erhalten. Angesichts der drohenden Gefahren des Klimawandels soll die Erwärmung gestoppt, sollen lichtreflektierende Partikel in die Stratosphäre geblasen, sollen die Wolken über dem Ozean künstlich aufgehellt werden. Unbegrenzte Fantasie – auch Wissenschaftler setzen auf das literarische Grundprinzip und lassen Gedanken wuchern.
«Die Enteisung Grönlands», wie Döblin eines der Kapitel überschrieb, findet nun auch statt. Jedes Jahr verschwinden 200 Kubikkilometer Eis, viermal mehr als noch vor zehn Jahren. Die Arktis reagiert anfällig auf die Klimaveränderung: In den letzten 60 Jahren ist die Temperatur um 1,5 Grad gestiegen, doppelt so stark wie im weltweiten Schnitt. Schmilzt sämtliches Grönlandeis, was gewisse Forscher binnen 2000 Jahren für möglich halten, steigt der Meeresspiegel um sieben Meter, Millionenstädte wie Manhattan, Shanghai oder Kalkutta werden früher überspült.
Grönland, grünes Land: So hatte Erik der Rote die Insel genannt, als er im Jahr 986 eine Kolonie gründete. Schon der streitsüchtige Wikinger war sich der Kraft der Worte bewusst und wählte «einen schönen Namen», um Auswanderer für seine Idee zu gewinnen. Heute dehnt sich das Grün aus, an der Südküste werden bereits Kartoffeln und Gurken angepflanzt. Doch das ist im eigentlichen Sinn Beigemüse. Was zählt, sind Bodenschätze. Eisen, Uran, Seltene Erden, von den zurückweichenden Gletschern freigegeben, Erdöl und Erdgas, deren Verbrennung das Eis nochmals schneller schwinden lässt.
Döblin trieb gründliche Studien für seinen Roman, «konsumierte Atlanten, Geographiebücher Spezialkarten», wie er selbst erklärte. Womöglich sind ihm dabei auch die Expeditionsberichte «Durch Grönlands Eiswüste» und «Quer durchs Grönlandeis» in die Hände gekommen, beide verfasst vom Schweizer Alfred de Quervain. Den Meteorologen und Polarforscher hatte «das Mysterium des Inlandeises» gelockt. Anfang des 20. Jahrhunderts war das Gebiet, 2400 Kilometer lang und 1100 Kilometer breit, noch kaum erforscht. Im Jahr 1912, exakt vor 100 Jahren, gelang es de Quervain und seinem Team, den vielarmigen Eisstrom zu durchqueren. Das hatte zuvor erst einer geschafft, Fritjof Nanssen, weiter im Süden und auf deutlich kürzerer Strecke. Mithilfe von Siedepunktbarometer und anderem Messgerät hatte de Quervain ein 700 Kilometer langes Höhenprofil bestimmt, «das längste und genauste, das bis jetzt vorhanden ist», hielt er unbescheiden fest.
Einen Monat lang waren die Schweizer Forscher auf dem Eis, hatten Stürmen getrotzt, Gletscherspalten überwunden, die «furchtbare Eintönigkeit» ausgehalten. Als de Quervain am 1. August 1912 das Expeditionsziel Angmagsalik an der Ostküste erreicht hatte, war er für die Einheimischen bereits zu einem «Inlandeisbewohner» geworden. Die Eskimos mieden die Eiswüste, sie sahen keinen Grund, sich dorthin zu wagen, wo es nichts zu jagen gab. Nur Schnee und Eis hatten de Quervain und seine Begleiter gesehen, womit sie nebenbei auch die Vorstellung widerlegten, im Innern des Eises befände sich fruchtbares Land. Bis spät ins 19. Jahrhundert hatten sich immer wieder Abenteurer in der Hoffnung aufgemacht, eisfreie Gebiete, Wiesen und sogar Wald zu finden. Tatsächlich gab es Wald auf Grönland, früher allerdings, viel früher: Vor 200 Millionen Jahren war es warm und feucht, in Gesteinen aus dieser Zeit finden sich Überreste von Sumpfzypressen und anderem subtropischen Gehölz. Bis vor 5 bis 10 Millionen Jahren die Vergletscherung einsetzte, war Grönland eisfrei.
Die Literatur ist reich an Beispielen, wo vom Menschen geweckte Naturkräfte zurückschlagen – die reale Welt leider auch. Es überrascht also nicht, dass Döblins Klimaexperiment schlecht ausgeht. Zwar gelingt die Enteisung Grönlands, doch mit dem neuen Erdteil für die Menschenmassen wird es nichts. Ganz anderes Leben wächst aus dem aufgetauten Boden empor, «das wütende Licht backte zu Leibern zusammen, was es fand.» Aus Pflanzenresten und Knochensplittern entstehen Vogeltiere, Fischwesen, Echsen, «Missschöpfungen einer unmässigen Kraft.» Jurassic Park, noch eine Vorwegnahme, die Döblin gelingt. Und die auferstandenen Reptilien fallen sogleich über Europa her, «Rudel der keuchenden blasenden Wesen ruderten flogen über den Ozean.» An den Küsten, wo sie landen, «zerdrückten sie Strassen und Anlagen. Mit den Haustrümmern stopften sie sich Menschen in den Schlund.»
Thomas Schenk
Thomas Schenk wurde 1966 in Muttenz bei Basel geboren. Nach dem Betriebswirtschaftsstudium war er u.a. als Redaktor bei der NZZ, der «Berner Zeitung» und «Facts» tätig, danach als freier Journalist. Von 2003 bis 2008 hat er das Metier gewechselt und als Tramführer in Zürich gearbeitet. 2007 ist im Limmat Verlag die Kolumnensammlung «Im Tram – Anleitung zum Vorwärtskommen» erschienen. Im Weissbooks Verlag publizierte er 2010 seinen Roman «Im Schneeregen». Der Autor lebt in Zürich. www.thomasschenk.ch