kulturtipp: War es zwingend, dass vor 20 Jahren aus dem Geiger Thomas Hengelbrock der Dirigent wurde?
Thomas Hengelbrock: Ich selber habe den Schritt als organisch empfunden. Ich hatte schon sehr früh eine Geigen-Professur, war schon Konzertmeister in diversen Ensembles, dabei habe ich Einstudierungen für Komponisten wie Witold Lutoslawski oder Mauricio Kagel vorgenommen. Insofern war der Wechsel vom Konzertmeister zum Dirigenten ein kleiner Schritt.
Als Sie im Concentus Musicus Geige spielten, stand Nikolaus Harnoncourt am Dirigierpult. Dachten Sie: «Das will ich auch!?»
Bei Harnoncourt war es faszinierend, an seinem musikalischen Denken teilzunehmen. Das ist bis heute so. Ich finde ihn einen unglaublich inspirierenden Menschen und Musiker. Aber in der Art und Weise, Ensembles zu leiten, gehe ich meinen eigenen Weg.
Harnoncourt hielt es als Cellist nicht mehr aus, wie der Dirigent vorne Mozart dirigierte. Hatten Sie auch solche Frusterlebnisse?
Nein, meine Erfahrungen mit manchen Dirigenten waren sogar überwältigend und beglückend. Mein einziger Lehrer war Antal Dorati – ein grossartiger, gebildeter Mann, von dem ich viel gelernt habe.
Wissen Sie, was Sie als Dirigent auszeichnet?
Ich bin wohl anders als viele Kollegen vorgegangen. Das Freiburger Barockorchester entstand 1985 aus einer studentischen Laune heraus. 1997 habe ich das Orchester aufgegeben und danach das Balthasar-Neumann-Ensemble gegründet: Chor und dann Orchester. Es ging am Anfang darum, einzelne, sehr unterschiedliche Projekte zu realisieren: Opern von Francesco Cavalli, Kirchenmusik von Claudio Monteverdi oder Luigi Rossi. Dafür brauchte ich einen Chor. Wir spielten zum Teil aber auch Uraufführungen von zeitgenössischer Musik. Ein Werk interessierte mich in einem bestimmten Konzept. Dafür trommelte ich mir die Musiker zusammen.
Dahinter stand also ein egoistischer Gedanke.
Durchaus – ganz egoistisch. Nur glaube ich, und das ist die Antwort auf die vorherige Frage: Dank der Art und Weise, wie ich das machte, ist etwas Tolles entstanden. Im Zentrum stand die totale Konzentration auf die Musik. Die gruppendynamischen Prozesse interessierten mich nicht mehr, die waren abgehakt. Die absolute Fokussierung auf die Musik befreite uns alle von den Unwichtigkeiten, von den Selbstbefindlichkeiten. Dass daraus Ensembles wie Balthasar-Neumann-Chor und -Orchester entstanden, ist ein unwahrscheinliches Glück. Es ist uns allen aber auch sehr bewusst, dass wir das pflegen müssen.
Wie pflegt man eine solche Glückssituation?
Wir geben uns Verhaltensregeln. Aber die Verfassung kennt nur zwei Punkte. Erstens: Es braucht einen radikalen Einsatz für die Musik, die Leute müssen perfekt vorbereitet sein, weil es gilt, ein Werk auf höchstmöglichem Niveau aufzuführen. Und zweitens verpflichten wir uns, die wir aus 15 Ländern stammen und verschiedenen Religionen angehören, zu respektvollem und kollegialem Umgang miteinander.
Sie haben sich für Ihre Wunschprojekte ein ideales Ensemble geschaffen, das den Namen eines Barockbaumeisters trägt. Sind auch Sie selber ein Baumeister?
Dass der Mensch ein Baumeister ist, dass er von Gott oder den Göttern dieses Leben geliehen bekommt, um etwas zu bauen, ist ein Renaissance-Gedanke, den ich durchaus teile. Somit bin ich quasi ein Baumeister. Wenn ich dann irgendwann mal vor Petrus stehe, Einlass begehre und gefragt werde, was ich da unten gemacht habe, muss ich ohne Scham Rechenschaft ablegen können. Diese Sichtweise betraf einst vor allem künstlerische Berufe, aber auch das Handwerks-Ethos. Es geht aber auch um den menschlichen Bereich: Wir sollen Beziehungen erschaffen. Familie, Freundschaften, soziale Gemeinschaften sind doch auch «Bauten», an denen wir ein Leben lang arbeiten und werkeln müssen.
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Mendelssohn-Bartholdy/Schumann:
Sinfonie Nr. 1/Sinfonie Nr. 4 (Sony 2010).
Tschaikowski/Liszt: Klavierkonzerte (DG 2010).
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