Die letzten beiden Jahre sollten eigentlich die Hitparade unserer Ängste auf den Kopf gestellt haben, aber: Pustekuchen! Was bereitete laut Umfrage den Schweizerinnen und Schweizern 2021 die grössten Sorgen? Weit vorne die «Krankenkassen-Prämien». Platz zwei die «Situation der Umwelt allgemein», gefolgt von «Altersvorsorge». Der «Klimawandel» abgeschlagen auf Platz vier, und ganz weit hinten: «Roboter und Automatisierung».
Spoiler: In manchen Dingen, liebe Schweizer, sind wir einfach besser als ihr, beim Thema Angst zum Beispiel sind wir Schwobe stets vorneweg, egal ob Artensterben oder AKWs. Was Ängste anbelangt, seid ihr echte Low-Performer, wir hingegen absolute Angstprofis, zwischen Mahnwache und Wahnmache. Unsere Selbstpeinigungskräfte sind unübertroffen. Wenn irgendwo auf der Welt eine neue Angst auf den Markt kommt, rudern wir wie wild mit den Armen und rufen: Hier! Her damit! Natürlich gibt es rein länderspezifische Ängste, in der Schweiz zum Beispiel die Furcht, von einem frei fliegenden Nouss getroffen zu werden. Oder: «Niedergösgen macht nervösgen.» Der Amerikaner kennt die Arachibutyrophobie – die Angst, dass Erdnussbutter am Gaumen kleben bleibt, ein uramerikanisches Phänomen. Katholiken kennen das mit Hostien.
Wenn ich in der Schweiz wohnen würde und mir eine landestypische Angst zulegen müsste, für welche würde ich mich entscheiden? Eindeutig für die Akrophobie, die Höhenangst, die rentiert sich hier am meisten. Nirgends in Europa kann man besser in Abgründe schauen. Nirgends kommt man beim Abstieg schneller voran. In Deutschland ist der Abstieg dafür sozialer. Zu den vielen Gipfeln kann man ohne Aufsehen aufsehen. Von oben herab ist es weniger lustig. Höhenangst verursacht bei vielen Patienten Schwindel, Schweissausbrüche und Herzrasen.
Wer profitiert am meisten von Ängsten? Klar die Versicherungen. Natürlich die Pharmaindustrie. Der böse «Blick». Nicht zu vergessen die Therapeuten, die Kriegsgewinnler des dauernden Kampfes gegen sich selbst. Für mich gab es einen konkreten Anlass, mich mit dem Thema zu befassen, einen sogenannten Wake-up-Call. Ich sass im Zug nach Stuttgart, mir war leicht blümerant, auf einmal Schmerzen den linken Arm hinunter. Das Laien-Medizinerwissen in mir versuchte mir zu signalisieren: «HERZINFARKT!» Wundersamerweise bietet der Stuttgarter Hauptbahnhof keine Ambulanz, geschweige denn einen Arzt. In jedem dämlichen Bierzelt gibt es welche, nicht aber im Stuttgarter Hauptbahnhof, wo man kaum weniger Besoffene findet. In der DB-Lounge sprach die DB-Lounge-Mitarbeiterin ins DB-Lounge-Telefon: «Schicken Sie schnell jemanden her, der Herr sieht auch gar nicht so gut aus.» So genau wollte ich das gar nicht wissen.
Kurz bevor ich aus der Klinik entlassen werden sollte, kam eine Assistenzärztin ins Zimmer geschossen: «Die Blutwerte! Verdacht auf Koronarinfarkt! Wir verlegen Sie in eine andere Klinik! Dort kriegen Sie einen Herzkatheter!» Dazu mindestens drei Ausrufezeichen mehr. Anschliessend hat sie meinen Blutdruck gemessen, der erstaunlicherweise astronomische Höhen erklommen hatte. Wie man sich am schnellsten freitags nachmittags gegen halb vier durch den Berufsverkehr einer deutschen Grossstadt bewegt? Da sind Blaulicht und Martinshorn unerlässlich. In Klinik zwei fanden sie heraus, dass Klinik eins die Blutwerte falsch gemessen hatte und mein Herz völlig in Ordnung war. Was also war passiert? Wahrscheinlich eine Panikattacke. Auch wenn ich bis heute nicht weiss, worauf sich diese Panik bezog. Die kommen oft mit Verspätung, als wären sie von der Deutschen Bahn gesponsert.
Seither beschäftigt mich das Thema Angst. Die Angst, Fehler zu machen, ist schon der erste Fehler. Ich habe – wie jedes andere Lebewesen auch – mein Angstpraktikum im Mutterleib begonnen. Die Feinjustierung hat früh die Kirche vorgenommen: «Fürchtet eu-heuch nicht!» Dass ich nicht lache: In der Nähe jeder katholischen Kirche müssten sich eigentlich Riesenabraumhalden für Schuld finden lassen. Gar nicht so einfach, aus dieser Nummer wieder herauszukommen. Vor allem in der Lebensberatungsbranche wird Schindluder getrieben. Dort erzählt man dir, was alles aus dem Ruder läuft und mit welchen Katastrophen du persönlich zu rechnen hast und was du alles falsch machst in deinem armseligen Leben, bis du in eine Art Schockstarre fällst. Dann spricht der Coach: «Oh, du, dir geht es aber gar nicht gut, das sieht ja richtig mies aus, da müssen wir dringend was unternehmen!» So ein Coaching kostet ordentlich Geld, dafür kommen diese Leute aber mit wirklich tiefgreifenden Lebensweisheiten rüber: «Tja, der heitere Himmel ist eben gar nicht heiter, der grinst heimtückisch!» Natürlich sollte man nicht alle Coaches in einen Topf werfen, besser wäre ein Eimer.
Schon Karl Lagerfeld hat erkannt: «Man soll nicht ständig Angst davor haben, dass die eigene Unfähigkeit auffliegt!» Das eine geht immer nahtlos ins andere über. Die Angst, irgendetwas nicht zu bekommen, wonach man sich sehnt – und zufällig fällt es einem in den Schoss. Und wenn man es dann besitzt, die Angst, es wieder zu verlieren. Ich erinnere mich an viele Situationen in meinem Leben, in denen ich starr war vor Angst. Irgendwann die simple Eingebung: Versuchs doch mal ohne! Was soll ich sagen? Ging auch! Sogar besser. In der «Süddeutschen» habe ich dann ein Interview mit einer 75-jährigen Frau gelesen, die gefragt wurde, was sie in ihrem Leben hätte besser machen können. Sie gab zur Antwort: «Ich hätte mir 90 Prozent weniger Sorgen machen müssen!» Selbst wenn das Herz laut klopft – sag einfach «Herein!» Was kann schon gross passieren? Immerhin hat es geklopft und nicht die Türe eingetreten. Ein anderer bedeutender Karl, nämlich der Valentin, soll kurz vor seinem Ableben gesagt haben: «Mein ganzes Leben lang habe ich Angst vor dem Tod gehabt – und jetzt das!»
Was ist wohl besser: Mit den Ängsten umzugehen oder sie zu umgehen? Wie kriegt man seine Ängste am besten in den Griff? Wenn du zum Beispiel ständig Angst vor einer Panikattacke hast, dreh den Spiess einfach um – und freu dich drauf! Die Panikattacke kommt sowieso, aber mit Freude macht sie deutlich mehr Spass. Wer sich dauernd auf seine Angst fixiert, kriegt die gar nicht mehr aus dem Schädel. Lenk dich lieber ab, denk an was Schönes, meinetwegen an die Ergebnisse der letzten Ständeratswahl, dann fühlt die Panik sich komplett missachtet und kriegt selber Schiss. Loslassen ist das Gebot der Stunde. Gerade auch erfahrenen Bergsteigern sage ich immer wieder: «Man muss auch mal loslassen können!»
Thomas C. Breuer
Thomas C. Breuer (*1952) ist in Bad Ems, Rheinland-Pfalz, aufgewachsen und hat in Trier eine Lehre zum Buchhändler abgeschlossen. Von 1977 bis 2018 war er als Kabarettist auf internationalen Bühnen unterwegs. 2014 hat er den Salzburger Stier erhalten. Er ist als freier Schriftsteller tätig und arbeitet für verschiedene Radiosender. Bei SRF ist er etwa in der Satire-Sendung «Zytlupe» zu hören. Thomas C. Breuer lebt in Rottweil (D).