«Wie viele Jahre bleiben mir noch?», fragte sich vor den Ägyptern keiner. Erst sie erklärten 365 Tage zur Einheit – und damit beginnt auch das Stück «Los Años» («Die Jahre»), das am Theaterspektakel Zürich zu sehen ist. Der argentinische Theatermacher Mariano Pensotti stellt mit dem Kollektiv Grupo Marea die Zeit in den Fokus: Lebenszeit, verbleibende Zeit, verlorene Zeit. «Zeit war schon immer eine Obsession von mir», sagt er im Zoom-Gespräch.
Der Lockdown bot Zeit zum Nachdenken
Der Regisseur und Autor, der sonst von Festival zu Festival reist, ist zu Hause in Buenos Aires, das «wieder mal, wie fast immer», in der Krise steckt. Erst Covid, dann die ökonomische Talfahrt. Ungewöhnlich war nur der Stillstand: Rausgehen, gemeinsam proben – alles illegal im rigorosen Lockdown. Plötzlich hatte der 49-Jährige massenhaft Zeit. Für die Familie. Und zum Nachdenken über Gestern und Morgen. Die Idee zum Stück reifte heran. Im ersten Entwurf erzählte Pensotti die Geschichte eines älteren Dokumentarfilmers in der Gegenwart und dessen jüngeren Pendants in den 90ern. Geprägt von der Pandemie, veränderte er den Text aber grundlegend: «Mir wurde erstmals bewusst, dass der Blick in die Zukunft spannender ist, als die zum damaligen Zeitpunkt absolut irrelevante Vergangenheit.» Kurzerhand versetzte er den Protagonisten ins 2020 und 2050 und erzählt sein Leben parallel in zwei Phasen. Dessen Film, der ins Stück eingeflochten wird, handelt von einem Jungen im Stadtteil «Villa Lugano » in Buenos Aires. Ursprünglich als Utopie gedacht, bröckeln die Hochhäuser dort vor sich hin. In für Pensotti typisch rasanten Dialogen zieht der Filmer mit Familie und Freunden 30 Jahre nach seinem Durchbruch Bilanz. Berührend, melancholisch und bisweilen heiter werden Lebenslügen entlarvt, Hoffnungen umkreist und gesellschaftliche Utopien gestreift.
Die Freiheit, über die Zukunft zu fantasieren
Vor allem der Blick in die Zukunft war für den Autor ungewohnt: «Ich kenne kaum Leute, die über sechs Monate planen, das macht in Argentinien wenig Sinn.» Die Freiheit, über die Zukunft zu fantasieren, lebte Pensotti genüsslich aus: Im fiktiven 2050 will eine rechtsextreme Partei Argentinien wieder zur spanischen Kolonie machen, und die Menschen essen nur noch Fleisch, weil Gemüse ungesund ist. Blitzschnell springt die Erzählung von links nach rechts und zurück übers mittig geteilte Bühnenbild, das dieselbe Wohnung auf zwei Zeitebenen zeigt. «Nach grossen Ausstellungen, Installationen und Filmen wollten wir nun wieder zum klassischen, theatralen Format zurückkehren», erklärt der Regisseur, der sonst für surreale und immersive Erlebnisse steht. Für «Diamante» (2018) liess er die Zuschauer etwa durch eine Dschungelstadt schlendern.
Je nach Publikum wirkt das Stück anders
Sowieso ändern sich die Produktionen des Kollektivs laufend: «Wir sind eine Art obsessives Unternehmen, wir nehmen ständig kleine Anpassungen am Rhythmus oder an der Betonung vor.» Für Pensotti, der dank seines Grossvaters den Schweizer Pass besitzt, ändert sich je nach Publikum und Stadt auch die Wirkung. Nun ist er gespannt, wie das Stück in Zürich ankommt. Und das kriselnde Argentinien? «Ich habe keine Angst vor der Zukunft und den Glauben an die Menschheit nicht verloren », sagt Pensotti. Jeder gestalte seine Zukunft selbst mit. Und durchs Fiktionalisieren der eigenen Geschichte könne auch das reale Leben verändert werden.
Los Años
Do, 1.9.–Sa, 3.9, 20.00/20.30, Werft Zürich, Theaterspektakel Zürich
Do, 18.8.–So, 4.9., Landiwiese Zürich
www.theaterspektakel.ch
Interview: «Lass uns mit Sex umgehen, wie mit gutem Wein»
«Fehlen uns die Worte, um über Sex zu sprechen?» Anna Papst und Mats Staub haben nachgefragt und aus intimen Interviews ein anregendes Audio-Erlebnis fürs Zürcher Theaterspektakel geschaffen.
kulturtipp: Sex ist omnipräsent – wird aber auch ehrlich darüber gesprochen?
Anna Papst: Es gibt Menschen, die mit Freunden oder in Partnerschaften über Sex sprechen. Aber sie sind nicht in der Mehrheit.
kulturipp: In die Tiefe gehen wohl nur die wenigsten Gespräche?
Anna Papst: Ja, denn es gibt zwei Arten von «über Sex sprechen». Über die emotionale Seite zu sprechen, ist nicht einfach. Meistens fragt jemand: «Habt ihr oft Sex?» Und die gefragte Person bejaht. Doch über Sex gesprochen haben wir damit nicht – es fehlt das Konkrete. Etwa sich zu fragen: Warum ist es ein Problem, wenn wir kaum mehr Sex haben? Was fehlt mir genau? Fühle ich mich nicht mehr attraktiv? Erst dann zeigen sich Bedürfnisse.
kulturtipp: In eurem Langzeitprojekt erzählen Interviewpartner offen aus dem Sexleben. Dabei fehlen ihnen oft die Worte. Wieso?
Anna Papst: Die Geschichte eines Mannes zeigt das schön: Er beschrieb sein Erleben in Vulgärsprache, die vermutlich von Pornos stammt, und erklärte dazu: «Ich weiss mich nicht anders auszudrücken und merke, dass ich mich sprachlich in einem Feld bewege, in dem ich mein Sexleben nicht verorten möchte.»
kulturtipp: Und ohne passende Sprache kann man sich kaum ausdrücken.
Anna Papst: Genau! Die queerfeministische Sexarbeiterin Kristina Marlen, die unser Projekt begleitet, beharrt auf dem Standpunkt, dass wir heraus- finden müssen, was wir fühlen und brauchen. Und lernen müssen, über Sex zu reden, um einen Raum zu schaffen, in dem sich alle wohlfühlen. Lass uns mit Sex umgehen, wie mit gutem Wein!
kulturtipp: Ihr habt die Gespräche eingedampft, lässt Profi-Sprecherinnen und -Sprecher nacherzählen. Was erwartet das Publikum?
Anna Papst: Jeder wird zum Tisch geführt, darf in der Menükarte selbst Geschichten und Wein auswählen, die ihn ansprechen. Sobald die Getränke und Kopfhörer serviert sind, startet das Hörerlebnis. Pro Abend hört man drei bis vier Geschichten.
kulturtipp: Und anschliessend fällt es einem leichter, über Sex zu sprechen?
Anna Papst: Unsere Mission ist nicht, dass alle halböffentlich und öffentlich über Sex sprechen können. Wunderbar aber wäre es, wenn sie mit denjenigen, mit denen sie Sex haben, darüber sprechen könnten!
Intime Revolution
Di, 23.8.–Di, 30.8., GZ Wollishofen, Schiff Zürich
www.theaterspektakel.ch