Momo und die Schildkröte Kassiopeia, Beppo Strassenkehrer und Gigi Fremdenführer, der weise Meister Hora und die düsteren grauen Herren, die den Menschen die Zeit stehlen: Fast alle kennen diese Figuren aus Michael Endes grossem Roman «Momo» (1973) und verbinden damit ihre eigenen Erinnerungen. Genau damit spielt Regisseur Alexander Giesche in seiner Inszenierung. «Was ist übrig geblieben von unserer Kindheitsgeschichte?» und: «Wie konnte es passieren, dass wir alle zu grauen Herren wurden?», fragt er. In ähnlicher Form wie bei seiner preisgekrönten Inszenierung «Der Mensch erscheint im Holozän» setzt er das Stück in Form eines Visual Poem aus Erinnerungsbruchstücken zusammen und collagiert die Texte aus «Momo» neu, wie er in einer Probenpause erzählt.
In der Recherchephase hat der Regisseur auch mit Roman Hocke, dem langjährigen Freund und Lektor von Michael Ende, gesprochen. «Finde deinen eigenen Weg durch Fantasien», hat dieser ihm geraten und das Theaterteam ermutigt, «sich freizuschwimmen». Eine Steilvorlage für Giesche, der das Publikum in seinem «Gesamtkunstwerk aus Licht, Bild, Text und Ton» zum freien Assoziieren einladen will. Das grosse Thema Zeit, das Michael Ende (1929–1995) im Roman auf poetische Weise verhandelt, ist in Zeiten von Leistungsdruck, Burnout und Selbst-optimierung natürlich aktueller denn je. All dies lässt Giesche in seiner Inszenierung anklingen, geht aber über die gängigen Interpretationen hinaus.
Das Bühnenbild ist an das Amphitheater angelehnt
Am Anfang seiner Recherche stand für Giesche die Szene aus «Momo», in der die Kinder auf die Strasse gehen, um zu demonstrieren. Die Eltern sind derweil so beschäftigt, dass sie gar nichts davon mitkriegen. Der Protest der Klimajugend, das Thema Nachhaltigkeit und die zwei verschiedenen Welten der Prä- und Post-Internet-Generation schwingen in der Inszenierung des 40-Jährigen ebenso mit wie unsere Abhängigkeit von der Technologie. «Diese ist in Coronazeiten noch stärker geworden – wie auch das Gefühl, nach der Pandemie alles nachholen zu müssen», eben: die Zeit zu nutzen.
Der Technik räumt Giesche denn auch einen besonderen Platz ein: So hat der Regisseur die Licht-, Sound- und Tontechniker in die vorderste Reihe versetzt, wo ihnen das Publikum über die Schulter blicken kann. Das schlichte Bühnenbild ist an das Amphitheater angelehnt, in dem Momo ihre Freunde trifft und ihre besondere Gabe auslebt: das Zuhören. Ein drehbarer Bühnenboden und ein weisser Lichtblock, auf den Bilder oder Zahlen projiziert werden können, sorgen für die Special Effects.
Beim Probeneinblick hallen die Glocken wie im 3D-Kino-Sound von allen Seiten durch den hohen Raum im Schiffbau, das Ticken der Uhren ist zu hören und der Lärm von vorbeirasenden Autos. Das Theaterteam hat sich im Uhrenmuseum für die Soundkulisse inspirieren lassen, hat aber auch die Geräusche der befahrenen Hardbrücke, die gleich ums Eck liegt, eingefangen.
Die grauen Herren rauchen E-Shisha
Während der Probenszene kringelt sich grauer Rauch aus dem Dunkel. Schauspieler Thomas Wodianka lehnt E-Shisha rauchend an der Wand – einer der grauen Herren, welche die Menschen bedrängen, Zeit einzusparen, immer schneller und schneller Leistung zu erbringen. Für die kranke Mutter, den Wellensittich oder gar Tagträumereien und Plaudereien bleibt da keine Zeit. Mit Sekundenzahlen in Milliardenhöhe rechnet der graue Mann vor, wie die Zeit scheinbar nutzlos verrinnt. Ungemütliche Quietschgeräusche, ein immer gleicher Klavierakkord begleiten seine Tirade.
Während der Inszenierung werden Karin Pfammatter, Maximilian Reichert und Thomas Wodianka vor Ort performen – Schauspieler Thomas Hauser wird digital aus München zugeschaltet. «Ganz so, wie auch die Arbeitsrealität während der Pandemie für viele ausgesehen hat», sagt Giesche. Bei den Proben sind aber alle vier zugegen. So kurze Zeit vor der Premiere sei er mit seinem Team immer wie in einem Rausch: Gemeinsam versuchen sie, «den Roman in atmosphärische Bilder und visuell erlebbare Räume zu übertragen».
Überraschende Bühnenauftritte
In einem Archiv in München hat Giesche ein Buch aus dem Nachlass gefunden: Michael Ende, der einige Romanszenen in Tuschezeichnungen illustriert hat, schreibt darin, wie schwierig es ist, die grauen Herren oder Meister Hora bildlich darzustellen. Daran wird sich auch Alexander Giesche halten: «Die grauen Herren existieren bei uns nicht visuell, sie sind den Schauspielern quasi schon unter die Haut gekrochen», sagt er. Den Gegensatz von Momos bunter Fantasiewelt und der nebelgrauen Welt der Herren stellt er dar, indem er dem «Raum mittels einer speziellen Technik die Farben entzieht». Und auch die Schildkröte Kassiopeia, die sich während der Probe plötzlich mit lautem rhythmischen Getrappel ankündigt, wird in einer überraschenden Form auftauchen. Doch mehr sei nicht verraten. Alexander Giesche hofft, dass das Publikum nach der Corona-Pause zahlreich im Schiffbau erscheint, um sich wie Momo Zeit zu nehmen: Zeit zum Zuhören, Zeit für das Theater, die Poesie und die Reise in eine Fantasiewelt.
Momo
Premiere: Fr, 11.2., 19.30
Schiffbau Zürich