kulturtipp: Ziemlich mutig, zehn Autorinnen und Autoren von Leïla Slimani bis Lukas Bärfuss je eine Szene schreiben zu lassen. Wie kam es dazu? Yana Ross: Es war riskant – und notwendig: Nur so wird zeitgenössisches Theater lebendig und relevant. Wir nutzten diese Chance,eine Art Gespräch mit Schnitzler zu führen. Wenn wir das Original vom künstlerischen und sozialen Standpunkt aus betrachten, wird klar, dass die Tabus, über die Schnitzler schrieb, nicht mehr existieren. Wen kümmert heute noch Sex auf der Bühne?
kulturtipp: … so wie kürzlich der Live-Sex in Ihrer Inszenierung von «Interviews mit fiesen Männern».
Yana Ross: Genau. Gott sei Dank haben wir uns als Gesellschaft weiterentwickelt und einige dieser Intimitätstabus gebrochen. Wir haben in 100 Jahren einige Fortschritte gemacht, zugleich sind neue Tabus entstanden. Deshalb haben wir nun mit zehn verschiedenen Stimmen gearbeitet, um zu sehen, wie sie aktuelle Brennpunkte wahrnehmen.
kulturtipp: Wer Schnitzlers «Original» erwartet, wird also enttäuscht?
Yana Ross: Fürs Publikum, das auf konventionelle Paare hofft, die sich treffen und wieder trennen, kann das frustrierend sein. Wir beschlossen früh, den Autoren absolute Freiheit zu geben, statt sie in irgendeiner Weise auf Strukturen zu beschränken. So wird das Pärchenspiel mal zum Dreieck oder gar zur polyphonen Beziehung. Statt uns von Schnitzler einengen zu lassen, fragten wir: Wonach hat er gesucht? Und wie können wir diese Werkzeuge zeitgenössischen Schriftstellern zur Verfügung stellen?
kulturtipp: Welche «Spielregeln» gaben Sie den Autorinnen vor?
Yana Ross: Allen voran den Ort: ein Edelrestaurant. Darin können Paare und Partner sich treffen, intim sein und zugleich eine gewisse Privatsphäre haben. Zahlreiche Tische spiegeln auf eine Art ein Schachbrett – und damit ein Spiel.
kulturtipp: Das lässt viel Freiheit zu.
Yana Ross: Natürlich! Als wir die zehn Geschichten erhielten, waren wir erstmal von all den verschiedenen Themen geschockt. Jeder Autor hat eine einzigartige Stimme und Sprache. Manche formal, andere literarisch oder simpel. Wir wurden im Team in dieses Universum hineingesogen und versuchten, ein 3D-Bild und Verbindungen zwischen den zehn Stimmen zu finden.
kulturtipp: Ist das gelungen?
Yana Ross: In gewisser Weise, ja. Ich mag diese abstrakte Vielstimmigkeit, bei der man als Zuschauerin nicht so passiv ist und einfach nur zuschaut und zuhört, sondern arbeiten und hinterfragen muss: «Warum spielt eine Schauspielerin in der nächsten Szene genau diese Rolle?» Das Stück ist abstrakt, voller Anspielungen – und zugleich vernetzt. Ein Restaurantbesuch ist verbunden mit Konsum, Auftreten und Verkleiden: Wir treten ein und spielen eine Persönlichkeit; das Restaurant ist unbewusst ein ziemlich performativer Raum.
kulturtipp: Sex und Lust, die bei Schnitzler einen Skandal auslösten, sind komplett verschwunden. Warum?
Yana Ross: Das Original ist schlecht gealtert: Was Schnitzler vor 100 Jahren thematisierte, ist langweilig und heute so sehr Teil unseres Lebens und unserer Existenz. Die Entscheidung, nicht mehr nach sexuellen Tabus zu suchen, fiel leicht. Brächte man seinen Text eins zu eins auf die Bühne, klänge das unglaublich künstlich. Gott sei Dank haben wir in Geschlechterbeziehungen einige Fortschritte gemacht, sodass Frauen nicht mehr nur passive Objekte sind und sich in jeder Szene dem Willen des männlichen Partners unterwerfen.
kulturtipp: Veraltete Rollenbilder sind also passé?
Yana Ross: Teilweise. So schlug eine Schauspielerin bei einer Szene spontan vor, dass Ehemann und Ehefrau im Gespräch zur Feier ihres einjährigen Hochzeitstages das Geschlecht wechseln sollen. Überraschend und spannend ist dabei, dass dieser Rollentausch bei der Aufführung gar nicht zu spüren ist.
kulturtipp: Zehn Autoren und zehn Stile zu einem harmonischen Abend zusammenzufügen, ist doch ein Ding der Unmöglichkeit!
Yana Ross: Die Herausforderung, mit zehn Autoren zu «tanzen», ist enorm. Sie alle waren ständig wie Geister im Raum mit dabei. Irgendwann akzeptiert man das – und macht es sich zu eigen. Nun kommunizieren die zehn verschiedenen Stile aus zehn verschiedenen Novellen untereinander: Man kann an einem Abend zehn Autoren treffen und ein von Zwischenspielen, Musik und subtilen Verbindungen verknüpftes Puzzle erleben, das auf eine Reise mitnimmt.
kulturtipp: Eine hochaktuelle Reise, wenn man an die Szene des russischen Autors Mikael Lenkov denkt.
Yana Ross: Richtig. Kurz nach Ausbruch des Ukrainekriegs hat er seine Szene von einer Romanze, die nahe an Schnitzlers Original war, radikal umgeschrieben. Neu spricht ein junger Russe mit seinen Eltern – unter anderem über die «spezielle Militäroperation».
Vielstimmige Gesellschaftskritik
Regisseurin Yana Ross (* 1973, Bild) katapultiert Arthur Schnitzlers «Reigen» rund um Macht, Verführung und Sehnsucht in die Moderne. Zum Glück, wäre das 1912 uraufgeführte «Skandalstück» doch heute zwischen Online- Porno und «Sex Sells»- Werbung kaummehr ein Aufreger. Ross lud analog zu Schnitzlers zehn Dialogen zehn Autorinnen und Autoren ein, je eine Szene beizusteuern – von Leïla Slimani über Lukas Bärfuss bis zu Sharon Dodua Otoo. Das vielstimmige Resultat fordert – und überfordert zuweilen. Geschirr fliegt durch die Restaurantkulisse, hitzig wird über #MeToo und Menschenrechte debattiert, die Geschlechterrollen verfliessen. Zurücklehnen und sich berieseln lassen: unmöglich. Vielmehr regt das Stück zum Mit- und Weiterdenken an. Über Konflikte, Missbrauch oder die Globalisierung.
Reigen
Premiere: Sa, 17.9., 20.00
Pfauen Zürich
www.schauspielhaus.ch