Fünf Männer sitzen nebeneinander – auf dem Gesicht Feuchtigkeitsmasken aus Stoff – und singen schunkelnd aus voller Kehle «Soon May the Wellerman Come». Auf das «Go», mit dem das Seemannslied endet, klatschen die Männer spritzend ihre Gesichtsmasken auf den Boden. Man könnte es für eine ganz gewöhnliche Theaterprobe halten, wären da nicht die Eisengitter vor den Fenstern der multireligiösen Kapelle, die als Probelokal dient. Regisseurin Annina Sonnenwald organisiert mit dem Verein Ausbruch Theaterstücke in Gefängnissen.
«Der klosterähnliche Alltag im Gefängnis gibt den Spielern eine grosse Imaginationskraft», sagt sie. Bei der Wahl der Laienschauspieler achte sie vor allem aufs Gruppengefüge, für «Amüs Busch» waren zudem Deutschkenntnisse nötig.
Kein Entrinnen beim Probenbesuch
Um die Probe zu besuchen, müssen Handy und Identitätskarte am Empfang deponiert und ein Metalldetektor durchschritten werden. Die Kapelle wird abgeschlossen. Bevor der Aufseher wieder kommt, kann niemand den Raum verlassen. Zum Glück zieht die Handlung bald in den Bann: Bei einer verunglückten Kreuzfahrt retten sich fünf Überlebende hustend auf eine einsame Insel.
Schnell stellt jemand die Frage: «Wen essen wir zuerst?» Da sind der Kapitän, der das Schiffsunglück verursacht hat, Kannibalismus ablehnt und an die Menschlichkeit appelliert, und sein treuer Matrose, der die einzige Flasche Rum alleine ausgetrunken hat. Dazu kommen der selbstverliebte Influencer, der arrogante weisse Mann und der Koch, der die Tötungsfantasien der Gruppe mit seinen Beschreibungen von zubereitetem Menschenfleisch immer wieder neu entfacht.
Schnell findet ein jeder Gründe, warum er selbst den Tod nicht verdient hat. Sie alle erzählen, wie übel das Leben ihnen mitgespielt hat. Es entsteht eine Diskussion um das Recht auf Leben, die an Texte des Schriftstellers und Juristen Ferdinand von Schirach erinnert. Für Auflockerung sorgt der Generationenkonflikt zwischen dem jungen Influencer und dem alten weissen Mann. Als der Junge naiv nach dem WLAN-Passwort fragt, antwortet der Alte trocken: «Kokosnuss.»
Gefängnistheater hat an Renommee gewonnen
Für Häftling Leon (Schauspielernamen geändert) ist «Amüs Busch» schon die vierte Produktion. «Hier im Gefängnis verläuft das Leben eintönig», sagt er. «Da ist das Theater eine willkommene Abwechslung.» Zudem wolle er Vorurteile abbauen helfen. «Viele Leute lesen den ‹Blick› und denken, wir seien Monster.
Dabei bin ich ein normaler Mann, der mal Nachbarn und Freunde hatte. Ich habe etwas Falsches getan, deshalb bin ich hier. Aber ich bin immer noch ein Mensch.» Annina Sonnenwald sagt, früher habe das Theater bei den Lenzburger Häftlingen einen schweren Stand gehabt, es galt als «schwul» oder «Frauensache». Heute sei das anders: «Die Gefangenen kennen die Filme ehemaliger Aufführungen und wissen, dass eine Teilnahme auch beim Anstaltsdirektor gut ankommt.»
Die Regisseurin hat in den über zehn Jahren Gefängnistheater ihre sozialromantische Sicht auf den Justizvollzug verloren. «Ich hatte früher Mitleid mit den Eingesperrten. Heute finde ich es bei vielen richtig, dass sie von der Gesellschaft getrennt sind. Trotzdem sollte man sie gut behandeln.»
Spiel der Gesetzesbrecher mit der Moral
Sonnenwald sagt, es sei Teil des Reizes, dass sich das Publikum während des Stücks frage, welches Delikt die Spieler wohl begangen hätten. Das doppelbödige Spiel mit der Moral geht auf: Die Zerrissenheit der Figuren zwischen Menschlichkeit und brutalem Überlebenswillen wirkt umso stärker, als sie von Personen gespielt werden, die das Gesetz gebrochen haben.
Dabei wechselt die Tonalität zwischen ernst und komödiantisch – etwa als die Männer auf dem Bauch des betrunkenen Matrosen Organe für das Essen markieren, während der Koch genüsslich die Zubereitung beschreibt. Aaron, der den Koch spielt, sagt: «Es ist ein krasses Stück. Jede unüberlegte Handlung kann jemanden das Leben kosten, und meine Figur heizt das noch an.» Das Projekt mache ihm grossen Spass: «Ich möchte unbedingt weiter Theater spielen, wenn ich draussen bin!»
Aaron mimt den Koch mal sensibel, mal gierig. Auch die anderen Spieler zeigen überraschend vielfältige Charaktere. Während der Probe achtet Sonnenwald auf jedes Detail. «Wenn der Kapitän seine Friedensrede hält, müsst ihr euch weiter prügeln. Der Kontrast wirkt super!» Viele Ideen, zum Beispiel die Figur des Influencers, kämen von den Häftlingen, sagt Sonnenwald. «Aber ich habe das letzte Wort.» Dieses Mal klappe das gut.
Bei früheren Produktionen hätten Spieler ihre Anweisung aber auch schon persönlich genommen. «Da veränderte sich der Blick, wurde aggressiver.» In solchen Fällen vertage sie die Detaildiskussion, um die Situation zu deeskalieren.
Die Häftlinge bringen ihre eigene Biografie ein
Die Abschlussmonologe, in denen die Figuren von ihrer Kindheit berichten und sich verletzlich zeigen, haben zum Teil einen wahren Kern. So erzählt der Matrose: «Ich bin im Waisenhaus aufgewachsen. Als ich zehn war, wurde es geschlossen, und ich landete auf der Strasse.» Auch diese Ebene gibt dem Stück Tiefe.
«Amüs Busch» spricht Lebensrealitäten an, die dazu führen können, dass jemand auf die schiefe Bahn gerät – ohne die Straftaten zu entschuldigen. Vor allem durch seine Doppelbödigkeit hallt das Stück nach, und die Bewegungsfreiheit ausserhalb des Gefängnisses wirkt plötzlich viel kostbarer.
Amüs Busch
Premiere: Fr, 1.3., 18.00
Justizvollzugsanstalt Lenzburg
www.ausbruch.ch