Es gibt Schaukeln und Klettergerüste. Und eine Frau, die ihr Baby spazieren fährt. So weit, so normal. Doch die Szene kippt. Die Frau ist eine Pseudomutter, wie uns eine hasserfüllte Predigerin (Luca Hass) verrät. Die Frauen in dieser düsteren Zukunft zelebrierten ihre Pseudoschwangerschaften und würden dabei ihre ganze Würde verlieren, lässt sie das Publikum wissen. «Wir sterben aus!», schreit sie.
Wir sind mitten in den Proben des Stücks «Bestien, wir Bestien », das die Schweizer Autorin Martina Clavadetscher im Auftrag der Bühnen Bern ge- schrieben hat. Das Stück ist zweigeteilt: in eine surreale Utopie und eine düstere Dystopie. Der erste Teil des Stücks mit dem Untertitel «Frei nach einer Ameisenkolonie» spielt in einem Matriarchat aus Frauen, die verschiedenen Aufgaben nachgehen.
Durch eine rigorose Geburtenkontrolle ist die Klimakatastrophe eingedämmt. Wie die wenigen, von sogenannten Reproduzentinnen gezeugten Kinder entstehen, bleibt ein Geheimnis. Denn Männer gibt es in dieser Welt keine.
«Die Natur hat uns verraten»
Im zweiten Teil, der Dystopie, werden gar keine Kinder mehr geboren, die Fertilität ist versiegt, die Natur kaputt. Es herrscht Endzeitstimmung. Die Pseudomütter, welche Gaia, also der Mutter Erde, huldigen, treffen auf solche, die den kollektiven Selbstmord propagieren. «Was wäre, wenn es plötzlich besser wird?» Diese Frage wird im Stück mehrmals gestellt und wirkt wie ein Plädoyer für die Hoffnung.
Die 1986 in Deutschland geborene Regisseurin Franziska Autzen diskutiert mit ihren Schauspielerinnen auf Augenhöhe. Untereinander besprechen sie etwa, was die Figuren antreibt oder innerlich bewegt. «Es geht dir darum, Werbung zu machen für den Exodus », weist Autzen eine Schauspielerin an, die Propagandamaterial ans Publikum verteilen soll. «Die Natur hat uns verraten, deshalb verraten wir die Natur», so lautet das Motto der Sterbewilligen. Schliesslich proben sie eine Szene, die in einer ehemaligen Kapelle spielt.
Der Klangkünstler Johannes Hofmann lässt Kirchenchoräle erklingen. Kollektiv murmeln sie: «Gaia, Töchter, Schwestern, wir sind das dynamische System. Du bist das Gebären.» Die Schauspielerinnen positionieren sich dafür auf Leitern und stimmen in ein Wehklagen ein.
Gedankenexperiment mit Reibung
Franziska Autzen lebt in Hamburg, wo sie von 2014 bis 2017 als Regieassistentin am Thalia Theater engagiert war. Seit 2017 ist sie freischaffend. Gesellschaftsrelevante Themen durchziehen ihre Arbeiten. Sie setzt sich mit systemischer Gewalt, Gleichberechtigung oder der Macht von Sprache auseinander. Den Text von Martina Clavadetscher bezeichnet Autzen als «ein Geschenk».
Die Autorin schreibe filmisch und elliptisch. «Sie lässt viele Dinge offen und verzichtet auf allzu Eindeutiges. Somit bleibt Raum für die Fantasie des Publikums.» Die 43-jährige Schwyzer Autorin Martina Clavadetscher wurde 2021 für ihren Roman «Die Erfindung des Ungehorsams » mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Über ihr zweigeteiltes Stück «Bestien, wir Bestien» sagt sie: «Aus schriftstellerischer Sicht ist die Dystopie natürlich viel interessanter. Das ist ein Gedankenexperiment mit Reibung, ein Was-wäre-wenn.»
Der Titel ihres Stücks sei eine Anspielung auf das Tierische im Menschen, an seinen Fortpflanzungswillen, aber auch an sein bestialisches Verhalten, wenn es darum gehe, sich durchzusetzen. Utopie und Dystopie – diese beiden Pole kann man in der Inszenierung von Franziska Autzen auch am Bühnenbild (Ute Radler) und an den Kostümen (Naomi Kean) festmachen. Im ersten Teil tragen die Darstellerinnen weisse Kleidung. Das Patriarchat ist tot, die Koketterie ist ihnen gänzlich abhandengekommen. Dafür können hier alle ruhig durchatmen, von Erschöpfung keine Spur. Die Frauen gehen Aufgaben nach, die in ihrem Interesse liegen.
Das Prinzip Hoffnung bleibt
Im zweiten Teil erinnern die Kostüme an den Grunge-Modetrend der 1990er-Jahre: Pullover mit Löchern, viel Schwarz, runtergerockte Parkas. Von Zeit zu Zeit erklingt eine beunruhigende Durchsage des kollektiven Forschungszentrums für Fertilität. Gaia huldigen oder den Massenselbstmord verklären? «Ich wäre ganz klar bei Gaia», sagt Clavadetscher. Die Hoffnung bleibe, was wohl auch an ihrem Festhalten an den Möglichkeitsformen liege.
Auch Regisseurin Autzen hat sich die Frage gestellt, wie sie in einer solchen Zukunft handeln würde. Und auch sie hält am Prinzip Hoffnung fest. «Plötzlich wird ein Kind geboren, das die Formel findet», meint sie. «Ohne Hoffnung müsste man ja gar nicht mehr kämpfen.» Die letzten Kinder Gaias murmeln während dieser Probe jedenfalls fast flehend: «In deinen Händen liegt unsere Zukunft. Wir sind frei.»
Bestien, wir Bestien
Premiere: Sa, 10.12., 19.30
Vidmar 1 Bern
www.buehnenbern.ch