Regisseurin Sylvia Sobottka gestaltet den Stoff mit Originaltexten als szenisches Live-Hörspiel in der Spielstätte «Box».
Mit ihrem zweiten, autobiografisch grundierten Roman «Tauben fliegen auf» holte sich Autorin Melinda Nadj Abonji 2010 doppelte Ehre: Sie erhielt den Schweizer und den Deutschen Buchpreis. Der Roman erreichte mehrere Auflagen auf Deutsch und erschien in gut 20 Übersetzungen. Das Buch ist eine Familiengeschichte, die von Heimat, Migration, Identität und Politik handelt.
Erzählerin Ildikó, ein Alter Ego der Autorin, ist eine der beiden Töchter der Familie Koscis. Sie gehören der ungarisch sprechenden Minderheit in der nordserbischen Region Vojvodina an. Vater und Mutter emigrieren vom Balkan nach Zürich, wo sie sich mit Fleiss anpassen. Die Töchter folgen später, arbeiten mit im Familienbetrieb, einer Cafeteria in einer Goldküsten-Gemeinde. Immer wieder blendet der Roman mit seiner charakteristischen Episodenstruktur vom Gegenwartsjahr 1993 in die alte Heimat zurück. «Tauben fliegen auf» wird zur Coming-of-Age-Geschichte: Ildikó, erwachsen geworden, zieht am Ende aus, verlässt die Familie.
Biografische Anknüpfungen
Wie geht das: 320 Buchseiten für einen Theaterabend von gut zwei Stunden adaptieren? Wieso dieser Stoff? Wird eine Bühnenfassung der Romanvorlage gerecht? Die deutsche Regisseurin Sylvia Sobottka hat bereits mehrere Prosatexte für die Theaterbühne adaptiert. Sie ist die Tochter polnischer Eltern, die ins Ruhrgebiet eingewandert sind. Diese biografische Anknüpfung ist ihr wichtig für die aktuelle Arbeit: «Ausschlaggebend war der Inhalt, der viel mit mir persönlich zu tun hat. Es werden Themen verhandelt, die mir wichtig sind, erzählt zu werden, auch in einem Theaterraum.»
In Luzern wird «Tauben fliegen auf» nicht auf der grossen Bühne, sondern in der neuen Spielstätte «Box» aufgeführt. Das ist ein speziell geeigneter Ort, wie Sobottka sagt: «Kein klassischer Bühnenraum; man sitzt als Publikum mittendrin, als ob man bei der Familie Koscis im Wohnzimmer wäre.» Diese extreme Nähe stelle einen grossen Zugewinn dar, der Roman könne einen so «physisch anders angehen». Publikum und das fünfköpfige Schauspielensemble sind nah beieinander, im selben Raum, auf der gleichen Ebene.
«Das Stück ersetzt die Lektüre nicht»
Klar ist der Regisseurin bei ihrer Literaturadaption: «Die Inszenierung kann die Lektüre nicht ersetzen.» Sie versuche, das geschriebene Wort, die besondere Qualität der literarischen Vorlage in das Medium Theater zu überführen. Dabei setzt sie nicht auf eine dramatische Dialogfassung, sondern auf eine Art szenisches Live-Hörspiel. Dieses neue Bühnengenre ist für «Tauben fliegen auf» sozusagen erfunden worden.
Dem kommt die typische Sprache von Melinda Nadj Abonji mit ihrem Klang, ihrer Musikalität entgegen. Kritiker des Romans bemerkten denn auch den «rhythmischen Sound» («NZZ») oder wie er «in einer wunderbar schwingenden, geradezu musikalischen Sprache» («Die Welt») geschrieben sei. Sylvia Sobottka betont: «Das Theater ist ein anderes Medium, das versucht, die Qualitäten des Buches zu transferieren und darüber hinaus sich selbst gerecht zu werden.»
Ganz im Geist der Buchvorlage
Der Text des Stücks setzt sich aus einer Auswahl von Originalpassagen zusammen. In einer ersten Phase wurde eine Vorauswahl der Autorin Melinda Nadj Abonji geschickt, man diskutierte und einigte sich schnell. Die Regisseurin hat sich an der Grundstruktur des Romans orientiert und für den szenischen Fluss des Theaterabends Passagen neu geordnet. Also nicht sklavisch treu, aber im Geist der Buchvorlage, der Anspruch der Theaterversion ist das Bewahren der Essenz des Romans.
Sylvia Sobottka wünscht sich vor allen Dingen, dass das eintritt, was bereits der Roman macht: «Dass es solche Momente gibt, wo man extrem auf sich zurückgeworfen ist.» Auch ohne vergleichbare Herkunftsgeschichte wie die Figuren im Roman könne man einiges wiedererkennen: «Familienfeste, wo alle betrunken sind, oder Momente mit den Eltern, wenn man sich nicht getraut zu sagen: Ich bin anderer Meinung. Oder wo man denkt: Warum ist das so ungerecht, was mir widerfährt?» Im besten Fall, so Sobottka, «kann man die Geschichte mit den eige-nen emotionalen Erfahrungen überschreiben». Das sei auch das Tolle am Buch, «man muss nicht unbedingt eingewandert sein und kann denken: Ja, auch meine Familie …».
Theater
Tauben fliegen auf
Regie: Sylvia Sobottka
Premiere: Fr, 10.3., 20.00 Luzerner Theater, Box
www.luzernerthater.ch
Begleitveranstaltung
Luzerner Salon
Erzähl-Café zu «Tauben fliegen auf»
Sa, 25.3., 16.00 Luzerner Theater, Box
Buch
Melinda Nadj Abonji
«Tauben fliegen auf»
320 Seiten (Jung und Jung 2010).