Der frühere Berner Fremdenpolizei-Chef Marc Virot hatte genaue Vorstellungen, wie der perfekt assimilierte Ausländer sein sollte – und vor allem, wie er nicht sein sollte. «Wir möchten ganz allgemein, dass sich die Ausländer anständig, gut erzogen und zivilisiert verhalten, also nicht grölen, sich betrinken und Skandal erregen, im Kino nicht alles laut kommentieren und mit Esswaren Lärm erzeugen (…), Frauen nicht belästigen, die Strassen und Wohnungen nicht verunreinigen (…)», schreibt er 1968 in seinem Buch «Vom Anderssein zur Assimilation».
Das ist kein theatral überhöhtes Zitat zur Belustigung des Publikums, sondern historisches Material. Der Autor Adrian Meyer hat es bei der Recherche für sein Theaterstück «Tschingge» aus der Mottenkiste gegraben. «Der Ausländer kann assimiliert sein und trotzdem Olivenöl verwenden. Wir dürfen nicht verlangen, dass er statt Chianti und Rioja wie wir französischen Wein und Coca-Cola trinkt. Wenn er aber Vogelfallen aufstellt, bleibt er ein Fremder», fährt der Polizei-Chef darin munter in seiner Aufzählung zum unangepassten Ausländer fort.
Angst allgegenwärtig
Das Lachen über solche kruden Vorstellungen bleibt manchem Zuschauer im Hals stecken. Heute sind italienische Küche oder Musik längst ein Teil der Schweizer Kultur. Die Vorurteile haben sich auf andere Kulturen verschoben. «Dieser Benimm-Knigge für Ausländer ist beschämend und lustig zugleich», sagt Regisseur Dodó Deér. «Vieles scheint diesbezüglich überwunden, aber die Angst vor dem Fremden kennen wir immer noch.»
Im Original-Ton
Am Stück hat ihn die Kombination von dokumentarischem Material, Komödie und Musik besonders gereizt. Der Stammtisch oder das Volk kommen im O-Ton ebenso zu Wort wie die italienischen Emigranten, die über ihre Erfahrungen in der neuen Heimat berichten. «In Italie han ich nie Bier trunke. Do scho. De Schwyzer Wy isch gruusig. Do chunnsch Magechrämpf über», findet etwa Gaetano. Derweil beklagen sich die Schweizer über die lauten Italiener, die jedem Rock hinterherpfeifen. «Mafiosi» und «Papagalli» sind noch die harmlosesten Ausdrücke, die am Stammtisch fallen.
Ein Ad-hoc-Chor sorgt mit italienischen Schlagern aus den 60ern für musikalische Auflockerung. Angesiedelt ist die Geschichte in den Tagen vor der Abstimmung zur Schwarzenbach-Initiative in einem kleinen Ort in der Deutschschweiz im Juni 1970. Baumeister Hutter will das Grümpelturnier mit seinen «ragazzi» unbedingt gewinnen. Doch sein bester Stürmer Fortunato liegt mit einer Kopfverletzung im Spital – ausgerechnet im Zimmer mit dem «Tschingge-Hasser» Scheidegger, der sich vehement für die Schwarzenbach-Initiative einsetzt.
«‹Tschingge› gefällt mir, weil es uns trifft, ohne den Zeigefinger zu erheben», sagt Dodó Deér. «Aktuelles wie die Masseneinwanderungs-Initiative oder die Flüchtlingswelle werden im Stück nicht direkt thematisiert, spielen aber unterschwellig mit.» Er selbst ist 1956 als Siebenjähriger von Ungarn in die Schweiz gekommen. «Ich habe als Kind selbst dieses Fremdsein empfunden, auch wenn die Ungaren damals viel offener empfangen wurden als die Italiener», erinnert sich der Regisseur und Bühnengestalter.
Lebhafte Regiearbeit
Einen autobiografischen Bezug zum Stoff hat auch ein Teil der Laien-Schauspieler. Die italienischen Emigranten im Stück werden von Darstellern mit italienischer Herkunft gespielt. «Sie verkörpern im Stück die Generation ihrer Eltern und sind mit der Geschichte verwurzelt», betont Deér. Die Zusammenarbeit mit den Schauspielern gestalte sich lebhafter und etwas chaotischer als in anderen Regiearbeiten. Gewisse Vorurteile erfüllten sich durchaus - im positiven Sinne. «Mit italienisch verwurzelten, deutschen und Schweizer Schauspielern treffen unterschiedliche Temperamente und Kulturen aufeinander, das ist eine schöne Herausforderung», sagt er.
Auch der Fremdenpolizist, der im Stück immer wieder aus Marc Virots «Benimm-Bibel» zitiert, entspricht nicht einem eindeutigen Klischee, sondern hat verschiedene Facetten. Bildungsgrad, Herkunft und Sichtweisen unterscheiden sich, mal tritt er als Rüpel, mal eloquent, mal vordergründig wohlwollend auf.
Das vielfach bespielbare Bühnenbild von Dodó Deér ist dem Bau entlehnt, auf dem damals ein grosser Teil der italienischen Emigranten arbeitete. Im Zentrum steht ein Baugerüst, als Requisiten dienen Schalttafeln, Zementrohr, Baunetz und andere Utensilien. Bilder von damals werden in der Inszenierung ebenfalls eine Rolle spielen: Darauf sind Menschen zu sehen, die nach 1945 aus dem Süden in die Schweiz kamen, mit ihrer Arbeit zum Wohlstand der Schweiz beitrugen und oft mit Ablehnung konfrontiert wurden – nicht nur mit der Schwarzenbach-Initiative.
Die Schwarzenbach-Initiative
Am 7. Juni 1970 hat die Schweiz über die Überfremdungsinitiative von James Schwarzenbach abgestimmt. Der rechtskonservative Nationalrat war ein ehemaliger Fröntler und heizte die Stimmung an: Italiener bezeichnet er etwa als «artfremdes Gewächs». Als Parteichef der «Nationalen Aktion» wollte er den Anteil der ausländischen Bevölkerung in allen Kantonen auf 10 Prozent begrenzen. Bei einer Annahme hätten rund 350 000 Italienerinnen und Italiener das Land von einem Tag auf den andern verlassen müssen. Und auch für die Wirtschaft wäre ein «Ja» fatal gewesen: Die Industrie etwa rekrutierte damals 35 Prozent ihrer Belegschaft im Ausland. Die Emotionen gingen im Abstimmungskampf auf allen Seiten hoch. 75 Prozent der stimmberechtigten Männer gingen an die Urne. Schliesslich wurde die Initiative mit 54 Prozent abgelehnt.
Aufführungen
Tschingge – Ein Stück Schweiz
Premiere: Sa, 16.1., 20.00 Theater an der Mürg Stans NW
Infos unter: www.theaterstans.ch
Buch
Dieter Bachmann (Hg.)
«Il lungo addio/Der lange Abschied»
208 Seiten, inkl.
138 Fotografien
(Limmat Verlag 2003).