Jetzt wird das Zürcher Theater Spektakel also 40. Seine Gründung habe ich nicht miterlebt, aber ab Anfang der 90er kam ich aus Solothurn Sommer für Sommer auf die Landiwiese. Begeistert habe ich mir von den Schüssen bei «Hamleto» von Romeo Castellucci die Ohren betäuben lassen. Ich kam, um die Kettensägen von La Fura Dels Baus zu fürchten oder um die so unglaublich direkten Weltbeschimpfungen von Alain Platels zu durchleben. Ich kam nicht wegen des Essens, sondern wegen des Theaters als einer oft radikal physischen Erfahrung, die weit über das hinausreichte, was ich kannte. Ich kam, um schockiert zu werden. Auf der Landiwiese habe ich zum ersten mal Affen, Kleinkinder und Maschinen auf der Bühne gesehen, und im Zug zurück nach Solothurn war ich davon noch so elektrisiert, dass ich meine ersten Theatermanifeste geschrieben habe. Sie handelten von radikaler Kunst. Aber wenig von der Welt, die sie umgibt. Seither hat sich das Theater verändert. Warum, das lässt sich nicht zuletzt in Kuba aufzeigen.
Auch Kuba hat dieses Jahr Geburtstag. Nicht 30 Jahre Mauerfall, sondern 60 Jahre Revolution werden gefeiert. Kuba stand Anfang der 90er unter einem ganz anderen Schock als das Theaterpublikum in Zürich: Der Shugger-Daddy UdSSR hatte die Insel im sozialistischen Feld alleine gelassen, und das Bruttoinlandprodukt war innert Kürze auf 40 Prozent geschrumpft. Die Staatszeitung «Granma» berichtete in Kuba wenig über den Mauerfall, aber viel über den Prozess gegen den hochdekorierten General Ochoa, der unter anderem wegen Drogengeschäften nach einem langen Prozess hingerichtet wurde. Die Castros hatten den Zorn gegen Privilegien der Oberschicht geschickt auf einen Sündenbock umgeleitet. Und Fidel stürzte so nicht über die Perestroika, sondern hielt sich noch bis weit ins nächste Jahrtausend.
Ältere Herren, die sich an der Macht festhalten – das ist in Kuba bis heute ein Problem. Nicht nur in den Parteihierarchien, das wurde mir schnell klar, als ich hier vor drei Jahren mit den Recherchen für meine Produktion «Granma» begann.
Genaues Beobachten
des politischen Umfelds
Auch im Theater gibt es wenig Spielraum für die junge Generation. Das Laboratorio Escenico Experimental Social (LEES) versucht es trotzdem, allerdings hilft hier keine Schocktherapie, sondern Fingerspitzengefühl. Im LEES versammelt eine fleissige Gruppe von Dramaturginnen um Yohayna Hernández junge Theatermacher. Sie beobachten ihr soziales und politisches Umfeld sehr genau. Nicht nur im Rahmen unserer gemeinsamen Recherche zum Generationenwechsel in Kuba, in deren Rahmen sie fast 70 Zeitzeugen interviewten. Sondern auch in ihrer eigenen Arbeit: Der Regisseur Ricardo Sarmiento Ramirez etwa untersucht in seinem Stück die Spuren seines Vaters und vieler anderer Kubaner, die ihr Land Richtung Miami verlassen haben, in einem Aquarium. Erlaubt wird ihm nur eine Aufführung, weil er seine Inszenierung offiziell als ökologische Konferenz tarnen musste, um durch die Maschen der Zensur zu schlüpfen. Ein bisschen mehr Glück hatte der energetische Regisseur José Hernández mit seiner Recherche im lokalen Strichermilieu. Einige Wochen lang konnte er sein Stück «Backstreet Boys» in einem verfallenden Theater in Havanna Vieja zeigen, bis der Saal geräumt wurde.
Grosse Bereitschaft
für Kompromisse
Diese jungen Theatermacher sind nicht auf der Suche nach der radikalen Form, sondern verblüffen durch die Genauigkeit ihres Blicks, durch ihre überraschenden Inhalte. Ihre Theaterarbeit wird erst möglich durch eine grosse Disposition, sich auf Kompromisse einzulassen, um Theater in einer höchst kontrollierten Umgebung überhaupt stattfinden zu lassen. Ihre Theaterarbeit findet nicht im leeren Raum der freien Kunst und Fiktion statt, sondern sie sucht ihre Reibung an der Realität. Sie steht gewissermassen unter Realitäts-Schock und erzählt kubanisches Leben, statt sich in theatraler Form zu verlieren.
Und so war auch die Spurensuche unserer Recherche am Stück «Granma» ein sensibles, diplomatisches Tasten. Im hierarchischen Staatsapparat karibischer Prägung wird wenig verboten, aber auch so gut wie nichts bewilligt. Drehgenehmigungen werden nicht erteilt, aber trotzdem beantragt. Entscheidungsträger wollen vor allem eins nicht: zu einer falschen Entscheidung gedrängt werden, und so entscheiden sie lieber gar nichts.
So verhandelten wir unsere Texte nicht mit dem Staat, sondern mit unseren Darstellerinnen, denn wir hatten sie ausgesucht, um die Revolution ihrer Grosseltern im Reenactment nachzustellen.
Ein Protagonist in unserem Stück ist der Enkel des ersten Enteignungsministers von Kuba, dessen Fall viel über die Hierarchie des Landes erzählt. Mit der Posaunistin Diana reisten wir zu den Nachkommen der Band ihres Grossvaters, welche die kubanischen Truppen in Dutzende afrikanische Guerilla-Kämpfe begleitet hatte. Und wir verhandelten mit der angehenden Geschichtslehrerin Milagro darüber, was soziale Gerechtigkeit für die europäische Linke heute noch bedeuten könnte.
Theater als Ort, an dem Welt geteilt wird
Als Methode dieser Langzeitrecherche übernahmen wir das kubanische Prinzip der Micro-Brigada: Menschen, die ein Dach über dem Kopf brauchen, bauen unter Anleitung eines erfahrenen Arbeiters in einem Jahr ihr eigenes Haus. So ähnlich brachte die Posaunistin Diana den anderen drei Performerinnen innerhalb eines Jahres das Posaunenspiel bei, das unserem Stück den szenischen Rhythmus gibt.
In einer Zeit, in der sich politische Fronten immer intoleranter gegenüberstehen, ist Theater heute nicht mehr auf der Suche nach dem formalen Schrecken. Im Gegenteil: Theater soll ein öffentlicher Ort sein, an dem die Vorurteile und Polemiken der immer schneller zirkulierenden Hassreden auf das gemeinsam Menschliche kommen. Ein Ort, an dem die fremden Welten näher kommen. An dem Welt geteilt wird. Stefan Kaegi
Ticketverlosung siehe Seite 4
Granma. Posaunen aus Havanna
Zürcher Theater Spektakel(Do, 15.8.–So, 1.9.)
Mo/Di, 19.8./20.8., 20.30 Nord
Mi/Do, 21.8./22.8., 19.00 Nord
Publikumsgespräch: Mo, 19.8., nach der Vorstellung
www.theaterspektakel.ch
Weitere Tourneedaten: www.rimini-protokoll.de