Mit einem roten Band malt sie Formen in die Luft, biegt den dünnen Körper in unglaubliche Positionen, der Fuss tippt scheinbar mühelos ans Ohr: Marion Rothhaar, die 1989 bei den europäischen Meisterschaften in der rhythmischen Sportgymnastik teilnahm. Jetzt, 36 Jahre später, steht Rothhaar auf der Bieler Probebühne, während das Video ihrer Wettkampfkür an die Wand gestrahlt wird. Sie bewegt ihr Band zeitgleich mit ihrem früheren Ich, lächelt. «Am Band, an der Keule, am Ball bleiben», sagt die Schauspielerin Rahel Jankowski, die nun die Bühne betritt. «Man könnte Schals für die ganze Stadt stricken aus all dem Wollen.»
Körperliche und seelische Gewalt
«Neue Körper am Ende der Welt» ist ein Stück, das die ehemalige Profisportlerin und mittlerweile Theaterschaffende gemeinsam mit dem Theater Orchester Biel Solothurn (Tobs) neu ausgearbeitet hat. Rothhaar beschäftigt sich schon lange mit dem Thema. Eine Version zeigte sie bereits auf Französisch. Eine andere wurde vor zwei Jahren im österreichischen Innsbruck aufgeführt. Nun bekommt sie von Tobs ein grösseres Ensemble, einen Bühnenbildner und zusätzliche Probezeit, um das Stück weiterzuentwickeln.
Das Stück hat viel mit Biel zu tun. Magglingen, die nationale Kaderschmiede der Kunstturnerinnen, liegt ganz in der Nähe. Ausserhalb der Sportkreise erlangte das Zentrum 2020 schaurige Berühmtheit, als Betroffene in den sogenannten Magglingen-Protokollen von körperlicher und seelischer Gewalt berichteten: Trainerinnen und Trainer erniedrigten die Athletinnen, wenn sie die geforderte Leistung nicht brachten, schickten sie verletzt zum Wettkampf oder vermittelten ihnen ein so selbstzerstörerisches Körperbild, dass einige heute noch an Essstörungen leiden.
Der Schauspieler Gabriel Noah Maurer und seine Kollegin Rahel Jankowski halten bei den Proben eine Turnhallenbank wie einen Zensurbalken vor ihre Gesichter. Jankowski zitiert Marine Périchon: «Als ich vor Erschöpfung zusammenklappte, zeigte Vesela Dimitrova auf einen leeren Plastiksack: ‹Das bist du. Du bist nichts.› Ich glaubte ihr. Dann riss sie den Sack in zwei Teile.»
Me-too-Moment für Spitzensportlerinnen
Périchon ist eine der Turnerinnen, die in den Magglingen-Protokollen ausgesagt haben. Maurer spricht für eine andere, Lisa Rusconi: «Ich habe vom Kopf abwärts nichts mehr gespürt. Ich musste wieder lernen, zu verstehen, dass ich Hunger habe. Oder dass ich aufhören muss, wenn etwas wehtut.»
Marion Rothhaar sagt: «Solche Enthüllungen wirkten bei mir und vielen anderen wie ein Me-too-Moment: Ich realisierte, dass mir etwas passiert ist, das nicht okay war. Und dass es kein persönliches Thema, sondern ein System ist.» Dieses sei aber grösser als der Turnsport. «Deswegen schauen wir im Stück generell auf die Leistungsgesellschaft. Warum messen wir uns immer an Medaillen?
Wozu brauchen wir Anerkennung? Können wir nicht einfach mal wir selbst sein?» Rothhaars Tochter gehe dreimal die Woche ins Voltigiertraining. «Wenn sie viermal gehen will, ist für mich die Grenze erreicht. Ich würde ihr dann nahelegen, den Sport besser in der Breite als an der Spitze zu betreiben und auch andere Interessen zu verfolgen.»
«Druck macht aus Dreck Diamanten»
Den Text für «Neue Körper am Ende der Welt» hat die Bieler Kulturpreisträgerin Regina Dürig verfasst. Aus Rothhaars Erfahrungen und den Magglingen-Protokollen ist ihr ein poetisch-rhythmisches Kondensat gelungen, das von Rothhaar, Maurer und Jankowski mit viel Gespür für die harte Welt des Wettkampfturnens und echtem Schweiss bespielt wird. Maurer und Jankowski robben auf dem Bühnenboden nach vorn. «Qualität kommt von Qual», sagt er keuchend. Und: «Druck macht aus Dreck Diamanten.» Dann hängen beide für eine lange Szene an einer Sprossenwand. Jankowski sagt: «Wenn eine weint, genügt ein Wort, um uns stumm zu machen: Olympia.»
Co-Direktor Olivier Keller, Dramaturg dieses Stücks, fragt: «Könntet ihr vielleicht eure Beine bewegen, während ihr hängt?» Jankowski ist skeptisch: «Ich weiss nicht mal, ob ich so lange hängen kann. Vielleicht können wir die Füsse unauffällig abstellen?» Ihr Kollege Maurer widerspricht: «Nein, wir schummeln nicht. In Magglingen wird auch nicht geschummelt.»
Elfriede Jelinek beschrieb den Sport in ihrem 1998 erschienenen «Sportstück» als Kriegsersatz. Diese Analogie sei nicht von der Hand zu weisen, sagt Rothhaar: «Bei einem internationalen Wettkampf steht man als Athletin für ein Land.» Zur Zeit des Kalten Krieges habe sie als Deutsche hohen Druck gespürt. «In der rhythmischen Sportgymnastik waren die ersten Plätze immer von Chinesinnen oder Athletinnen aus dem Ostblock besetzt, die stahlhart ausgebildet waren, aber oft kaum Alternativen hatten. Die schwarze Pädagogik hinter dem Erfolg kam dann durch die Trainerinnen auch zu uns.»
«Ich liebe diese Sportart trotz allem»
Wie Marion Rothhaar weiss, versucht nun die Ethikkommission des Schweizerischen Turnverbands nachhaltige Änderungen in den Sport zu integrieren. «Momentan werden Arbeitsrechte diskutiert. So dürfte den Athletinnen beim Training nicht mehr das Trinken und Essen verwehrt werden», sagt sie.
Neben dem Schauspielduo und Rothhaar werden auch zwei rhythmische Sportgymnastinnen auftreten, die gerade aus dem Kader aussteigen. «Ich liebe diese Sportart trotz allem», sagt Rothhaar. «Die Bewegungen sind schön und schrecklich zugleich. Wir können auf der Bühne lange reden. Aber zu zeigen, was bei viel Training möglich ist, hat eine viel grössere Wirkung.»
Neue Körper am Ende der Welt
Premieren
Biel: Sa, 1.2., 19.00
Solothurn: Sa, 22.2., 19.00
Gastspiele in Frauenfeld, Olten SO und Fribourg
www.tobs.ch