Robert (Martin Hofer) knallt sein halb ausgetrunkenes «Herrgöttli» ungeduldig auf den Beizentisch. Endlich kommt sein alter Freund Jöggu (Urs Bihler) im Jogginganzug in die Bar und ruft: «Lue do, lue do, der Robert! Gsesch us, wi wenn d Ziit wär blybe sto! Muesch entschuudige, ha nümm dra dänkt, dass mer do jo genau uf d Ziit chunnt.» Im Stadttheater Langenthal steckt das Theater Überland mitten in den Proben zu «Längizyti», Pedro Lenz’ neuem Stück.
Darin geht es um den Rentner Jöggu und seine Frau Lisbeth, die vor 17 Jahren nach Spanien ausgewandert sind. Jetzt – zurück in der Schweiz – ist Jöggu alles fremd geworden: etwa die jungen Leute, die immer eine Trinkflasche dabeihaben, «wie wenn me i dene föif Minute zwüsche deheimen und der Schueu chönnt verduurschte». Fremd sind ihm auch das allgegenwärtige «Merci villmol» und die ehemaligen Stammbeizen, die jetzt Nagelstudios sind.
Auswanderer und ihre Sehnsucht nach Heimat
Der kulturtipp hat Pedro Lenz im Bahnhofbuffet Olten getroffen. Lenz, mit dem dreijährigen Sohn auf den Knien, sagt: «Das Thema Heimat und Heimat verlassen beschäftigt mich schon lange.» Seine eigene Mutter emigrierte aus Spanien, wurde hier aber nicht glücklich. «Sie hat sich nie ganz auf die Schweiz eingelassen», sagt Lenz, «verglich alles mit Spanien, regte sich über die Schulzeiten auf und hörte irgendwann auf, die Sprache zu lernen.»
Lenz glaubt, dass Auswanderer ihr Glück nur finden, wenn sie nicht zurückschauen und nicht vergleichen. Beim Probenbesuch stapft nun auch Christoph Keller als Antonio in Latzhose und Arbeitsschuhen in die Beiz. Antonio kam als Schulbub in die Schweiz und kennt Robert von der Baustelle. Als der gebürtige Spanier von Jöggus Auswanderung erfährt, wechselt er sofort in fliessendes Spanisch. Jöggu versteht sichtlich kaum etwas, weil er sich in Spanien weitgehend in Ausländerkreisen bewegt hat.
Für Nachfragen ist er aber zu stolz. Lieber gestikuliert er seine Verwirrung mit den Händen weg, murmelt «Andaluz, vale» und nimmt einen grossen Schluck Rioja. Antonio ergeht es ähnlich wie Jöggu – nur umgekehrt. Er will nach Jahren auf dem Schweizer Bau zurück nach Spanien, um dort ein Haus zu bauen. «Das ist oft besonders tragisch», sagt Pedro Lenz, der selbst lange als Maurer gearbeitet hat. «Ich kannte Spanier, die 30 Jahre in einer leeren Wohnung lebten, um für ihr Haus in der alten Heimat zu sparen.
Endlich dort angekommen, schlägt ihnen Neid entgegen, und sie werden sehr unglücklich.» Das Stück macht schnell deutlich: Oft gibt es den Ort, nach dem man Heimweh – oder eben auf Berndeutsch «Längizyti» – verspürt, gar nicht mehr. Vielleicht gab es ihn nie. «Ich selbst brauche nur ein paar vertraute Menschen, einen Laden und eine Stammbeiz, um mich zu Hause zu fühlen», sagt Lenz. Und auch seine Figur Lisbeth findet: «Vilecht isch de Jöggu mis einzige Deheime. Und ig sis.»
«Du bisch e Pischeleeu»
«Manche Leute brauchen die Sehnsucht», sagt Lenz. «Wenn einer bei der Arbeit oft auf die Uhr schaut, denkt er gern an einen Idealort, ein Ferienhaus, auf das er sich freuen kann.» Solche Feinheiten der Suche nach dem Glück lotet Lenz in seinen Dialogen liebevoll und mit viel Gespür für menschliche Widersprüche aus. Regisseur Reto Lang gibt dem Stücktext in seiner Inszenierung viel Raum.
Das realistische, ruhige Spiel wird von einem poetisch anmutenden Bühnenbild unterstrichen. Der Tisch, der zu Beginn nur ein Telefon trägt, wird zur Bar, zum Esstisch und später zum Bett. Dabei rückt er zwihen rohverputzten Kalkwänden nach hinten und offenbart so immer grössere Sandhäufchen an den Wänden, die aussehen, als hätten Wind und Zeit sie dort aufgetürmt. Wie oft bei Pedro Lenz sprechen bei «Längizyti» durchschnittliche Leute über ihren Alltag.
Diese Dialoge offenbaren jedoch tiefe Gefühle, dramatische Schicksale und zeichnen ein nahbares Milieu in der unteren Mittelschicht einer Kleinstadt. Der Text ist gespickt mit vergnüglichen Sprachbeobachtungen. So erzählt Jöggu, dass die heimgekehrten spanischen Bauleute die Berner Beleidigung «bisch e Leeu» als ein Wort verwenden: «Du bisch e Pischeleeu.» Mit den Finessen der Mundartsprache zeigt der Autor auch die wechselnde Ortsverbundenheit der Figuren.
So sagt Lisbeth je nachdem, wie es ihr gerade geht, «bi üs» oder «bi dene dohie». Lenz findet, es sollte mehr Schweizerdeutsch auf der Bühne gesprochen werden. «Mer söu doch uf de Theaterbööni so rede, wie mer ou ir Pouse mitenang redt.» Mit Hochdeutsch kämen viele erst in der Schule und im Militär in Kontakt. «Wir haben das in uns: Wenn Hochdeutsch gesprochen wird, gilt es ernst!» Lenz glaubt, dass die Beliebtheit von Theaterkomödien oder Schweizer TV-Serien mehr mit Sprache als Inhalt zu tun hat. «Die Mundart geht uns einfach näher.»
Angst vor dem Altwerden in der Fremde
Nach einem gemeinsamen Znacht bei Robert schnappt Jöggu nach Luft, röchelt und fasst sich ans Herz. Als er im Krankenhaus liegt, hört er Lenz’ Stimme aus dem Off: «Wenns nidsi geit, vor Gsundheit här, wird d Heimatsuechi bsungers schwär. E Chrankheit macht di rundum läär, us Gwüssheit wird es Ungefär.» Nicht grundlos sind Jöggu und Lisbeth mit über 80 Jahren in die Schweiz zurückgekehrt.
Jöggu hatte Angst, «ir Frömdi aut z wärde.» Der 58-jährige Pedro Lenz denkt selbst noch lange nicht an die Pensionierung. «Ich habe bei meinen Eltern gesehen, wie schwierig der Bedeutungsverlust sein kann, der mit dem Ende der Arbeit einhergeht.» Dazu kommen Lenz’ drei kleine Kinder, die ihn jung halten. Und auch der Bank habe er versprochen, noch länger als acht Jahre zu arbeiten. Lenz lacht. «Sonst hätte ich die Hypothek für das Haus nicht bekommen.»
Längizyti
Premiere: Sa, 28.10., 20.00
Theater an der Effingerstrasse
Bern