«Als müsste man sich gegen die ganze Welt auflehnen. Und das schon immer», klönt eine junge, kettenrauchende Frau in einem roten Kleid. Sie ist Teil einer Gruppe, die wild durcheinander parliert, rauchend und trinkend die Weltlage und eigene Befindlichkeiten an einem Tisch sitzend zur Sprache bringt.
Die Truppe spielt eine Szene aus dem Kosmos von Annie Ernaux, jener französischen Autorin, die es mit sogenannter Autofiktion vom Arbeiterkind in den elitären Literaturbetrieb schaffte. 2022 wurde der 83-Jährigen der Nobelpreis für Literatur verliehen. Die Feuilletons überschlugen sich, nannten sie «Archäologin in eigener Sache» oder «Ethnologin ihrer Selbst».
Stina Werenfels inszeniert erstmals fürs Theater
Texte aus insgesamt vier Bänden von Ernaux sind in das Stück «Ein Leben» eingeflossen: «Die Jahre», «Erinnerung eines Mädchens», «Das Ereignis» und «Der junge Mann». Die Zürcher Filmregisseurin Stina Werenfels («Nachbeben») wird mit diesem Stück die Spielzeit des Schauspiels bei den Bühnen Bern eröffnen. Werenfels inszeniert das erste Mal fürs Theater. Es sei ein ganz anderer Rhythmus, verrät sie. «Das Ensemble von Bühnen Bern ist äusserst spielfreudig und imaginativ.»
Dass die Chemie zwischen ihr und den Darstellerinnen und Darstellern stimmt, wird bei den Dreharbeiten, die an einem Hitzetag in der Mansarde des Berner Stadttheaters stattfinden, deutlich. «Liebe Truppe, wir legen los», begrüsst sie ihr Team. Es werden Szenen gedreht, die später auf der Bühne für Verdoppelungen sorgen oder das Geschehen konterkarieren. Oft fordert die Regisseurin von den Schauspielerinnen, direkt in die Kamera zu sprechen.
Es wird gestrickt, gezockt, getrunken und gekotzt
Beim Probenbesuch ist eine Szene aus «Die Jahre» dran. Wir befinden uns im Nachkriegsfrankreich. Die 1940 geborene Ernaux – sie wird im Stück mit verschiedenen Schauspielerinnen unterschiedlichen Alters besetzt – ist blutjung und sitzt in einer Kneipe. Es wird gestrickt, gezockt, getrunken und gekotzt. «Ich bin mit diesem Traubensaft am Ende», stöhnt Nikola Weisse. Die Schauspielerin muss sich in der Szene, die in verschiedenen Versionen aufgenommen wird, in einen Eimer übergeben. Weisse hat denselben Jahrgang wie Ernaux.
Werenfels holte die Darstellerin, die das Publikum unter anderem aus Stücken von Christoph Marthaler kennt, als Gast ans Haus, um die ältere Ernaux zu verkörpern. Nun wird nochmals die Kneipenszene geprobt, der Traubensaft ist wieder in den Gläsern. Die Spielerinnen und Spieler geben alles. Sie haben laut Drehbuch jetzt ganz schön einen sitzen. Die Frauen tragen klobige Schuhe und leichte Kleidchen. Man habe bei den Kostümen nicht immer alles konsequent der jeweiligen Zeit angepasst, sagt Werenfels. «Das hätte eine regelrechte Kostümschlacht gegeben.» Es seien eher einzelne Kleidungsstücke, die einen wissen liessen, dass man sich gerade in einer anderen Epoche befinde.
Das bürgerliche Leben erweist sich als Sackgasse
Nach einer kurzen Pause geht «Ein Leben» in den 70er-Jahren weiter. Der Schauspieler Jan Maak, der eben noch den Prolo gab, spielt nun Ernaux’ bürgerlichen Mann, mit dem die Autorin Ehe, Mutterschaft und Frust durchlebte. «Ich muss mir die schwarzen Arbeiterfingernägel abwaschen», meint Maak, bevor er sich in seiner neuen Rolle an den Tisch setzt. EnsembleMitglied Jeanne Devos spielt Ernaux, die gelangweilte Ehefrau. «Heiratet bloss nie», witzelt Werenfels, als das Setting der Szene besprochen ist. Eine Assistentin bringt Baguette an den Tisch.
«Wir sind in Frankreich», erinnert Werenfels ihr Team. Mann und Frau krümeln schliesslich mit dem Brot, starren ins Leere, bleiben sprachlos. Eine Erzählerin kommentiert die Szene mit Ernaux’ Worten: «Das alte Gefühl, nicht Teil der Feier zu sein.» Ernaux hat sich aus ihrem Milieu befreit und bleibt doch aussen vor. Das bürgerliche Leben erweist sich als Sackgasse. Maak beisst lustlos in ein Stück Baguette, Devos reinigt mit einem Handstaubsauger stoisch den Tisch. «Du darfst in die Kamera schauen mit allen Gefühlen einer enttäuschten Ehefrau», sagt Werenfels zu Devos.
«Kunst war in meinem Milieu nicht vorgesehen
In einem Gespräch nach den Proben verrät die Regisseurin, dass sie selbst aus einer bürgerlichen Familie stammt, in der viele in der Wissenschaft gearbeitet haben. Sie kenne die Fesseln ihrer Klasse. «Ich habe Pharmazie studiert, bevor ich zum Film kam, da Kunst in meinem Milieu nicht als Beruf vorgesehen war.» Kann man den Schweizer Klassismus überhaupt mit jenem in Frankreich vergleichen? «In der Schweiz pflegen wir die Illusion, eine klassenlose Gesellschaft zu sein», sagt Werenfels.
Dabei gebe es auch hier ganz klar Privilegien, die für die einen selbstverständlich, für die anderen unerreichbar seien. Zu Ernaux’ Texten gelangte Stina Werenfels über einen anderen, autofiktional schreibenden, französischen Autor. Sie las Didier Eribons «Rückkehr nach Reims», in dem mehrfach auf Ernaux verwiesen wird. Beide stammen aus dem Prekariat. Eribon erlebt Marginalisierung als Homosexueller, Ernaux als Frau. «Ernaux kritisiert die Machtverhältnisse nicht explizit, sie kontextualisiert sie», betont Werenfels. «Und das tut sie mit viel Lakonik.»
Die Regisseurin schätzt an Ernaux, dass sie anhand kleiner Beobachtungen – wie Flashes – vermeintlich Unwichtiges erkenne und so Universelles verhandle. «Wenn Ernaux etwas später geboren wäre, wäre sie eine grossartige Video-Essayistin geworden.»
Ein Leben
Premiere: 14.9., 19.30
Vidmar 1 Bern